: Sie ist das grazile Grauen
Mantis religiosa, die Gottesanbeterin, ist besser als ihr Ruf. Nur dreißig Prozent der Männchen werden nach der Paarung vertilgt. Ägypter bestatteten das Insekt in Mikrosärgen, Chinesen verehren die kleine Fressmaschine
von HEIDE PLATEN
„Ich kann nicht in die Garage“, sagt der Gast, die Stimme sehr, sehr leise, ja fast gesenkt, als sei größte Vorsicht geboten. Und raunt: „Da sitzt eine riesige Heuschrecke.“
Nun sind Heuschrecken eigentlich nichts, was diesen erschreckten Unterton auslösen könnte. Jedenfalls nicht bei einem erwachsenen Mann, der nicht im Entferntesten jemals an Insektenphobie gelitten hat. Ein Augenschein musste also sein an der himmelblauen, von violetter Bougainvillea umrankten Garagentür im Nordosten Spaniens.
Die Tür wird, so die schnelle Erkenntnis, noch für Stunden blockiert sein, denn Mantis religiosa, die Gottesanbeterin, rührt sich nicht vom Fleck, sie hat die Geduld eines Engels. Sie ist das grazile Grauen.
Das acht Zentimeter lange Insekt sitzt fein still, die zierliche Figur mit der gertenschlanken Taille regungslos, ab und zu dreht der zarte, zerbrechliche Hals das Dreiecksgesicht mit den riesigen Facettenaugen.
Sie steht auf den vier hinteren Beinen, das vordere Beinpaar ist länger, und unterhalb ihres Kopfes erhoben und eingeklappt wie zum Gebet. Mantis ist zwar von dieser Welt, aber doch so fremd, als sei sie von einem fernen Planeten gefallen.
Sie hat Modell gestanden für alle Marswesen, Venusianer, Außerirdischen, Aliens. Und ist doch länger auf der Erde als ihre modernen Abbilder. Gottesanbeterinnen sind schon vor fünfzig Millionen Jahren in Bernstein eingeschlossen worden.
Mantis religiosa steht unter Naturschutz und ist vor allem in Südeuropa verbreitet. Sie ist tagaktiv und lebt in Deutschland nur in den wärmeren Gegenden, zum Beispiel um den Kaiserstuhl am Oberrhein. Sie hat nur wenige, kleinere europäische Verwandte, aber weltweit acht große Familien der Ordnung Mantodea mit über zweitausend Arten.
Fangschrecken sind im Gegensatz zu den vegetarischen Heuschrecken räuberische Fleischfresser und mit den Termiten und Schaben verwandt. Sie haben keine Sprungbeine, machen aber trotzdem manchmal einen Satz. Junge Tiere springen öfter als erwachsene.
Die Weibchen sind erheblich größer als die kleinen Männchen, ihre Flügel benutzen sie kaum, sie werden vor allem als Tarnung gebraucht. Bei Mantis religiosa liegen sie, geädert wie ein Blatt, auf dem Rücken. Tropische Verwandte erreichen eine Größe bis zu sechzehn Zentimetern, kommen in allen Farben von weiß bis braun vor und sind durch ihre skurrilen Formen bestens getarnt.
Eine tropische Art liegt in Orchideenblüten auf der Lauer, ebenso schneeweiß und lappig wie diese, kaum von der Blüte zu unterscheiden und gespenstisch anzusehen. Andere haben die Gestalt von kleinen Ästen oder vertrocknetem Laub.
Nicht überall auf der Welt löst die Gottesanbeterin Angst aus. In der 6. Dynastie in Ägypten – vor etwa 2.200 Jahren – wurde sie verehrt und königlich zu Grabe getragen, mumifiziert in kleinen, tönernen Sarkophagen bestattet. Im Grab des Pharao Ramses ist sie als Wandmalerei abgebildet.
Ihr wissenschaftlicher Name stammt aus dem Griechischen und bedeutet Seherin, Wahrsagerin, Prophetin. Römer prägten ihr Bild auf Silbermünzen. In Süditalien allerdings gelten sie als unheimliche Unglücks- und Krankheitsbringerinnen und werden überschätzt: Ihr volkstümlicher Name bei den Bauern lautete „Hennenwürger“.
Eine falsche Beschreibung, denn Geflügel erwürgen, das können sie nicht. Aber Gottesanbeterinnen sind gefährliche Jägerinnen und Fressmaschinen. Sie stürzen sich auf alles, was in ihr Beuteschema passt.
Tropische Arten erlegen auch Schlangen, Eidechsen, Vögel und Mäuse, die größer sind als sie selbst. Sie sind, im Gegensatz zu anderen Insekten, imstande, ihre Beute mit ihrem drehbaren Kopf auch dann anzupeilen, wenn diese sich nicht bewegt.
Emsig justiert der kleine Dreieckskopf, die dornenbewehrten Fangarme mit den messerscharfen Klauen schnellen mit Hüftschwung vor wie ein Katapult. Wenn die Gottesanbeterin große Opfer angeht, sind diese Klauen weit ausgebreitet und schlagen seitlich zu. Dann klappen sie wie ein Taschenmesser zusammen, halten das Opfer fest wie im Schraubstock, die Kiefer beißen gezielt ins Genick – und die Mahlzeit, vorwiegend Insektenkost, beginnt.
Kleinere Artgenossen schmecken ihnen ebenso wie Schmetterlinge, Heuschrecken, Fliegen, Wespen und Bienen. Nach dem großen Fressen putzen sie sich die Fangarme zierlich wie Kätzchen.
Dass den Weibchen auch die eigenen Männchen munden, hat der Gottesanbeterin ihren Ruf als mystische Amazone und Männermörderin eingebracht. Sie werden gleich nach oder während der Paarung verputzt, wenn es ihnen nicht gelingt, schnell genug zu entkommen.
Da endet so mancher Kerl, bereits angeknabbert und kopflos, aber mit immer noch zuckend intaktem Geschlechtsteil, dessen Hinterleibsnervenknoten noch funktionieren. Pädagogische Gutmenschen rechtfertigen das, indem sie darauf verweisen, dass das Weibchen das Eiweiß für die Bildung der Eier dringend brauche.
Umgekehrte Fälle sind, weil die Natur zwar nicht gut, wohl aber vernünftig ist, nicht bekannt. Die Evolution spart auch bei anderen Arten an den Männchen, am gravierendsten bei einem Anglerfisch aus der Tiefsee, bei dem die Weibchen bis zu einem Meter, ihre Gefährten aber nur fünfzehn Zentimeter groß werden. Die Zwergmännchen beißen sich an den Weibchen fest, werden durch deren Kreislauf mit Nahrung mitversorgt und zu Paarungszwecken mitgeschleppt.
Wahr ist auch, dass eine Gottesanbeterin nicht ganz so schlecht ist wie ihr Ruf. Immerhin etwa zwei Drittel der Männchen entkommen deren Hochzeitsmahl. Pech jedoch haben sie, wenn die Dame nicht bei Laune ist und sie durch Flügelschlagen abwirft und zur leichten Beute macht. Sie versuchen deshalb den richtigen Moment abzupassen, wedeln lockend mit dem Hinterteil.
Wenn das Weibchen seine Fanghaltung aufgibt und die Vorderbeine streckt, springen sie auf dessen Rücken, umklammern die Flügel fest und beginnen die Balz nach Art der Insekten. Sie „betrillern“ die Auserwählte, das heißt, sie klopfen zart mit ihren Fühlern gegen die des Weibchens.
Die Paarung dauert mehrere Stunden – auf Menschenverhältnisse umgerechnet also etwa sieben Wochen – und endet mit geglückter Flucht oder Tod. Das Weibchen legt die Eier wenige Tage später und hüllt sie in einen an Zweigen, Grashalmen oder Steinen befestigten schaumigen Kokon ein, der kurz nach der Eiablage aushärtet. Die Larven schlüpfen nach acht Wochen als Nymphen, machen also nur eine unvollständige Metamorphose durch, sind fast fertige Gottesanbeterinnen, die sich sofort häuten.
Dann tun sie das, was ihrer Art entspricht: fressen. Zuerst Blattläuse, dann gehen sie auf Raubzug wie die Alten. Sie häuten sich mehrmals und haben nach der letzten Häutung als ausgewachsene Tiere nur noch wenige Wochen zu leben.
Die europäischen Gottesanbeterinnen sind meist grasgrün gefärbt, kommen aber auch in brauner Variation vor. Ein Versuch für „Jugend forscht“ brachte im Jahr 1997 einen Preis und erstaunliche Erkenntnisse zu Tage.
Gottesanbeterinnen können sich der Farbe ihrer Umgebung anpassen, wenn es für sie überlebensnotwendig ist. Sieben chinesische und ein europäisches Jungtier wurden in Glaskäfige mit unterschiedlichen Hintergrundfarben gesetzt und mit gleicher Nahrung aufgezogen.
Nach fünf Häutungen änderten sie ihre angestammte Farbe und legten sich stattdessen auf die des Behälters fest. Die Europäerin wurde weißgelb, eine der Chinesinnen grün mit rosa Rückenstreifen. Der Prozess ist allerdings nicht umkehrbar.
Der französische Insektenkundler Jean-Henri Fabre forschte im 19. Jahrhundert in seiner südfranzösischen Heimat. Seine Wissenschaft steckte damals in den Kinderschuhen. Er hinterließ ein zehnbändiges Standardwerk, in dem er eine Lanze für die Mantis brach.
Er schrieb: „Dies ist ein Tier des Südens, das mindestens so viel Aufmerksamkeit und Anteilnahme verdient wie die Zikade, aber lange nicht so berühmt ist wie diese, weil es keinen Lärm verursacht.“
Die heimischen Bauern, berichtet der französische Pionier, sagten ihr Wahrsage- und Heilkräfte nach und nannten sie lou Prego-Dieu. Das Tier, stellte Monsieur Fabre fest, entbehre „einer gewissen Anmut nicht“, sei aber mörderisch.
Der Mann war ein Gemütsmensch. Er bot seinen gefangenen Mantisweibchen immer wieder neue Männchen zur Paarung an: „Nach einer Ruhepause von unterschiedlicher Dauer, seien die Eier abgelegt oder nicht, ist ein zweites Männchen genehm und wird dann wie das erste verzehrt. Ein drittes folgt ihm nach, tut seine Schuldigkeit und verschwindet, aufgefressen. Ein viertes erleidet dasselbe Schicksal.“
Sieben Männchen verputzte diese Madame Mantis in zwei Wochen. Fabre sammelte seine Kenntnisse als einer der ersten Feldforscher auf seinem Gebiet. Mantis lassen sich aber nicht gerne einfangen: „Keinem Insekt ist schwerer beizukommen. Das ritzt mit den Messerspitzen, sticht mit seinen Nadelzähnen, klammert sich an wie mit einem Schraubstock und macht einen sozusagen wehrlos, wenn man die Beute lebend erhalten und das Tier nicht mit einem Daumendruck töten will.“
Fabre beendet seine Studien der Gottesanbeterin weise: „Die Welt ist ein in sich selbst zurücklaufender Ring: Alles endet, damit alles beginnen kann; alles stirbt, damit alles lebt.“ Und was dem einen sin Uhl, ist eben dem anderen sin Nachtigall.
Chinesen schätzen die Gottesanbeterin als furchtlose Kämpferin. Die Buschmänner im südlichen Afrika mögen das Insekt ebenfalls. Bei ihren Wanderungen durch die Steppe grüßen sie die anderen Tiere höflich, die kleine, mutige Mantris aber lieben und verehren sie, sie sprechen mit ihr, erzählen sich Geschichten über sie.
Die ersten weißen Kolonialisten nannten das Tier deshalb den „Gott der Hottentotten“. Und sie findet heuer neue Liebhaber als Ungeheuer im Computerspiel und wird an Terrarienbörsen gehandelt. Weibchen sollten, empfehlen die Anbieter, nur einzeln gehalten werden. Das Lebendfutter für das Haustier muss selbst gefangen oder gekauft werden.
In die Vereinigten Staaten von Amerika sind Gottesanbeterinnen zur Schädlingsbekämpfung eingeführt worden und haben sich im Nordosten weit verbreitet. Das südafrikanische Touristikunternehmen „Mantis Collection“, das umweltverträglichen Urlaub anbietet, hat sie zu seinem Firmenemblem gemacht. Die österreichischen Weinbauern um Pfaffenstätten werben mit ihren „Les Hanl“, das im Herbst mit lauten „Les, Les“ zur Ernte aufruft.
Unsere spanische Mantis erwies sich als besonders stures Exemplar, unempfindlich gegen vorsichtiges Stupsen. Sie gab die Garagentür für den erschreckten Mann erst wieder frei, nachdem frau sie mit einem Stöckchen nachhaltig dazu motiviert hatte.
Fast verschnupft reagierte sie, hüpfte verärgert gerade zwanzig Zentimeter weit in den nächsten Busch, drehte das Köpfchen und guckte so kläglich wie einst E. T.
HEIDE PLATEN, Jahrgang 1946, langjährige Rhein-Main-Korrespondentin der taz, schreibt seit 1997 im taz.mag, vorwiegend als Tierexpertin und lebt in Frankfurt am Main und Spanien