: berliner szenen Dolby-Surround-Geballer
Potenzprobleme
Man kennt’s ja, man sieht’s an jeder dritten Kreuzung: Es gibt Auto fahrende Leute, die sind kaum größer als ein Schuhkarton, doch man kann diese ihre Autos schon bereits drei Monate vor ihrem Eintreffen an einem Ort hören, ganz einfach weil die Boxen der installierten Stereoanlage so klangmächtig sind. Und groß sind sie natürlich auch. Aber „Leute“, dieses Wort stimmt nicht wirklich, denn es sind Männer. Durchgehend, immer. Und man mutmaßt, an Freud, genauer: dem was deutsche Illustrierte von Freud übrig ließen, geschult, dass es sich bei den Großlautsprechern um eine sublimierte Potenzgeschichte, also ein Potenzproblem handeln muss. Denn um eine wie auch immer geartete Musikgenusssucht kann es sich nicht handeln, angesichts dieses Lärmes, der kleine Kleinwageninnenräume so füllt, dass sie zu platzen drohen, und der das Fahrer- und das Beifahrerhirn zwangsläufig schrumpfen lassen muss.
So denkt man, so pflegt man sein Ressentiment und fühlt sich ganz sicher. Doch neulich besuchte ich eine Bekannte, und als ich vor ihrer Tür stand, vernahm ich absonderlichen Lärm – Geballer, genauer: Kriegsgetön, Soldatengeschrei und Flugzeuggedröhn –, das Ganze klang wie von einer Dolby-Surround-Anlage abgespielt, und ich dachte, herrje, hier wird wohl um die Ecke ein Kino sein, das die Fenster offen stehen hat. War’s aber nicht. Es war meine Bekannte, die den Lärm veranstaltete, und nicht etwa, indem sie während eines Wutanfalles ein Kriegshörspiel hörte, sondern mit ihrem Fernseher – ein schmaler kleiner Kasten, daneben aber hatte sie zwei Boxen aufgestellt, die beinahe so groß waren wie ein Wandschrank. Hm? Potenzprobleme? Ich habe mich nicht getraut zu fragen. JÖRG SUNDERMEIER