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Archiv-Artikel

Durch den Familienroman wandern

Gutes Schuhwerk unabdingbar: Mit den Stadterkundungsprojekten „Made in Köln“ dehnte das Festival „Politik im freien Theater“ den Theaterbegriff über viele Kilometer aus

Selten kommt einem politische Geschichte so nahe wie bei Lukas Matthaeis semifiktionalen Biografien von drei Kölner Familien

Festivalkurator Rainer Hofmann hat es zusammen mit seinem Veranstalter, der Bundeszentrale für politische Bildung (BPB), noch einmal wissen wollen. Das 7. Festival für Politik im Freien Theater, das alle drei Jahre an wechselnden Orten steigt, haben sie für die Kölner Ausgabe „Echt!“ betitelt. Ihr Programm trägt einer Entwicklung der letzten Jahre im freien Theater Rechnung, wo sich im deutschsprachigen Raum sehr viel um das neue Dokumentarische drehte, um Theater mit Nichtschauspielern, von den Machern wechselweise Experten, Spezialisten, Komplizen oder Doubles genannt. Oder um Theater, das sich im öffentlichen (Stadt-)Raum abspielt.

Am weitesten dehnte den Theaterbegriff der Programmblock „Made in Köln“ aus, dessen Produktionen den eingeladenen deutschsprachigen und internationalen Gastspielen vor Ort kontrastieren. Eine Kölner und drei weitere deutsche Gruppen, deren Projekte gezielt Leben und Geschichte der Ausrichterstadt ins Visier nehmen sollten, standen in Konkurrenz mit den Gastspielen um die beiden Geldpreise des Festivals: Zuschüssen von 15.000 (BPB) und 10.000 Euro (Goethe-Institut). Den Preis der BPB erhielt die griechische Produktion „Stalin – eine Diskussion über das (griechische) Theater“, der Preis des Goethe-Instituts ging an Constanza Macras’ Sozialchoreografie „Hell on Earth“.

Rainer Hofmann spannte den Bogen bei „Made in Köln“ stilistisch sehr weit und erhob Anspruch auf Neues. Alle fünf Produktionen wurden als Uraufführungen angekündigt. Dazu zählten Hofmann und die BBP kühn, wenn auch außerhalb des Wettbewerbs, eine Stadterkundung von Boris Sieverts. Der führte seine Teilnehmer zehn Stunden lang durch den „Kölner Norden“, um dort die Randzonen des Urbanen zu erforschen. Auch alle Heimatliebe machte das nicht zu Theater.

Manch einem ging angesichts der präsentierten Formenvielfalt sowohl das Politische verloren als auch das Theater. Experimentierfreudige Gemüter konnten bei erweiterter Definitionsbereitschaft beides finden. One hit wonder etwa, die aus Berlin kamen, hatten in ihrem Projekt „Rockplastik XXL“ inklusive einer mehrmonatigen Vorbereitungsphase versucht, die größte Frauenrockband der Welt, die Maiden Monsters, zu gründen und am Ende gemeinsam einen Song live zu performen. Dazu eröffneten sie im Stadtteil Belgisches Viertel, dem Festival-Hotspot, schon Mitte Oktober ihr Proben-, Casting- und Kurzperformancebüro „Permission to Rock“.

Bandkopf Tanja Krone brachte ihr Projekt schlicht auf den Punkt: „Es geht um agieren. Es geht darum, zu sagen, was ich will. Das erfordert jeden Tag: Mut.“ Im Hintergrund schwirrten Beuys’ Konzept der sozialen Plastik und Canettis „Masse“-Begriff. Zum theatralen Kulminationspunkt kam es beim Abschlusskonzert in der Live Music Hall. Natürlich hatten die Maidens es nicht geschafft, 1.803 Bandmitglieder für einen Abend zu motivieren. So viel hätten es für einen Guinness-Rekord sein müssen. Guinness lehnte aber sowieso ab, weil, so die Vermutung der Band, sie als Motivation ihres Vorhabens angegeben hatten „to demonstrate female power“. Gut 250 meist Jugendliche waren es immerhin, die am Sonntagabend die Bühne fluteten und für einen kurzen Moment das große Versprechen des Pop feierten, togetherness.

Der lange Atem, die Verausgabung auf Produktions- und oft auch auf der Rezeptionsseite war ein Kennzeichen der Köln-Projekte. Schon die Videoinstallation „Serie Deutschland – Etappe Köln–Bonn“ von Hofmann & Lindholm forderte eine gewisse Verweildauer des Betrachters. Die Künstler hatten Kölner und Bonner Bürger gecastet, um mit ihnen Bildmomente des kollektiven politischen Gedächtnisses der BRD vor der Kamera zu reinszenieren und in Slowmotion zu zeigen.

Auf dreieinhalb oder vier Stunden Stadterkundung mussten sich die maximal vier „Mitgeher“ bei „Kurz nachdem ich tot war“, dem Stadtraum-und-Stadtgeschichte-Projekt des Regisseurs Lukas Matthaei, gefasst machen. Hintergrund bildeten authentische Biografien von drei Kölner Familien und deren (Liebes-)Beziehungen untereinander. Die Entwicklung dieser Geschichten verschränkte Matthaei mit Originalerzählungen zur politischen Geschichte Kölns, die man über MP3-Player und Kopfhörer hörte, bis man wieder in die von Schauspielern gespielten Szenen eintauchte, die zentrale Momente der Familienentwicklung von den 1930er Jahren bis in die Jetztzeit darstellten.

Dazu wanderten die Zuschauergrüppchen durch die halbe Kölner Innenstadt. Faszinierend war dabei, wie sich der semifiktionale Bogen der Geschichte immer dichter entwickelte, weil man selbst Teil der Handlung war. Selten kam einem politische Geschichte so nah. Dafür musste man die ein oder andere dramaturgische Inkonsequenz des Projekts in Kauf nehmen. Die Guides, die einen von einem Ort zum anderen führten, fügten sich kaum in das Konzept des Projekts. Zu unentschieden nahmen sie ihre Aufgabe wahr. Manche spielten mit („Sie sehen ja, wie hier alles zerbombt ist“), andere wollten gar nichts über das Projekt sagen, wenn man sie dazu befragte, wieder andere legten alles offen. Hier wäre eine klare Haltung, Bruch oder Stärkung der Fiktion, förderlich gewesen.

Matthaei hätte trotzdem einen Preis verdient gehabt. Dass die Jury Constanza Macras’ bereits etablierter Produktion den Vortritt gab, ist schwer verständlich. So gingen beide Auszeichnung am Ende doch an Arbeiten, die im geschlossenen Theaterraum stattfinden.

ALEXANDER HAAS