leseköpfe, klingt das nicht nach guillotine? von WIGLAF DROSTE
:

Der Börsenverein des deutschen Buchhandels kämpft für das Grundrecht der Branche, Geld zu verdienen. Dazu ist er da, und alles wäre in Butter, wenn nicht statt von Umsatz immerzu von „Kultur“ respektive von „bedrohter Kultur“ die Rede wäre. Seitdem die Unesco 1995 den 23. April zum „Welttag des Buches“ machte, zum „Feiertag für das Lesen, für Bücher und die Rechte der Autoren“, hat der Börsenverein ein festes Datum zum Selbstaufblasen. So auch dieses Jahr: Unterstützt von Zeit und 3sat inszenierte er die Aktion „Leseköpfe 2003“. Leseköpfe, klar – mit Schultern oder Füßen gönge das Lesen kaum, wenn auch immer noch besser als mit dem Munde des Börsenvereinsvorstehers Dieter Schormann: „Medien und Multiplikatoren sind starke Partner, wenn es gilt, das Lesen zu fördern; denn zur Lesefähigkeit – dem Schlüssel für alle weitere Bildung – gehört auch die Leselust. Wir wollen gemeinsam Anlässe schaffen, über Bücher zu sprechen, und so die Lust am Lesen wecken.“ Es gibt viele Gründe, das Lesen zu verlernen. Schormanns abgegriffenes PR-Deutsch ist einer davon.

Literatur ist ein Lebensmittel, manchmal ein Überlebensmittel, und Lesen ist eine konzentrierte Angelegenheit voll stiller Sensationen, bei der „Multiplikatoren“ und „Anlässe, über Bücher zu sprechen“ empfindlich stören. Der Buchhandel aber sucht sein Heil in Windmacherei – und heckte jene „Leseköpfe“ aus, die auch „Lese-Botschafter“ heißen: „Zehn prominente Menschen aus Wirtschaft, Politik, Kultur und Medien lesen und diskutieren an fünf deutschen Universitäten zeitgleich zum Thema ‚Klassik trifft Pop – Gibt es gutes und schlechtes Lesen?’ … moderiert von Journalisten und begleitet von Medienpartnern.“

Mit „Medienpartnern und Prominenten die Lust am Lesen wecken“, das hat den Sound von Nullhundertneunzig. Begründet wird der Verzweiflungsakt so: „Ausgelöst durch Harry Potter und Dieter Bohlen, den Lesekanon und die Pisa-Studie stellt sich die Frage nach den Kriterien für gutes und schlechtes Lesen.“ Das ist das Leiden der Krämer: Bohlens Geknatter verachten und davon leben. Viel lieber möchten sie verkaufen, was vom Kulturbetrieb abgenickt wurde und ein richtig schönes Gewissen macht. Der Traum heißt Das Gute Buch – gut, weil es die Branche gut verdienen lässt und dabei aus Lesern noch harmlosgute Sanso-Menschen macht. Ein Albtraum.

Der nach mir griff, in einer Anfrage des Börsenvereins an den Reclam Verlag Leipzig, ob nicht auch ich ein Lese- oder doch wenigstens ein Ersatzlesekopf sein möge: „Leider hat Heiner Geißler absagen müssen, und unser Medienpartner 3sat ‚Kulturzeit‘ wünscht sich als Nachfolger Wiglaf Droste. Wir würden uns sehr freuen, wenn er Lust und Zeit hätte, die zentrale Veranstaltung in Berlin gemeinsam mit Prof. Gertrud Höhler zu bestreiten.“

Die Gelegenheit, als Nachfolger Heiner Geißlers mit Gertrud Höhler das deutsche Lese- und Abend-, ja Abenteuerland und vielleicht sogar die CDU zu retten, ich ließ sie achtlos verstreichen, und zum Glück kommt sie nie, nie wieder.