: „Otto, da ist was schief gelaufen“
AUS MOSIGKAU UND NACHTERSTEDT THOMAS GERLACH UND ROLF ZÖLLNER (FOTOS)
Otto Körnig ist stur wie ein Schaf, aufmerksam wie ein Wachhund und stolz wie ein Pferd. Und wie all sein Viehzeug auf dem Hof steht er gut im Futter. Das muss er auch, denn Otto Körnig kämpft gegen die Obrigkeit, die alte und die neue, beide haben ihm Unrecht getan, beide haben ihn, einen Familienvater von jetzt 48 Jahren, um ein Haar ins Grab gebracht. Doch Körnig lebt – wenn auch als Invalidenrentner. Mit dem Straßburger Urteil vor einem Monat steht er vor einem Sieg, die Frau könnte einen Kräuterschnaps bringen. Die entschädigungslose Enteignung von Bodenreformland durch die Bundesrepublik verstieß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention. Jetzt wandert der Acker zurück.
Halt! Wenn das so einfach wäre. Otto Körnig muss einen klaren Kopf behalten, sonst geht das ererbte Großmutterland endgültig durch die Lappen. So ist Otto Körnig auf der Hut, sitzt in der „Reitsportboutique“ seiner Tochter in Mosigkau bei Dessau im Büro und blättert wieder und wieder durch Papiere, Zettel, Fotokopien, Briefe von Gerichten, von Anwälten, von der LPG, vergilbte Zettel, schneeweiße Bögen, Urkunden, Siegel, Unterschriften, Zeitungsschnipsel, Gesetzblätter, Petitionen. Wer blickt da noch durch?
Körnig kämmt den Wust durch, Brille auf der Nase, von hinten nach vorn, von vorn nach hinten, als sei er der Hauptbuchhalter der Familie. Ein Pferd zu striegeln ist dagegen eine Lust. An jedem Schnipsel klebt unsichtbar Ackerkrume, alles zusammen macht 9,17 Hektar Bodenreformland. Das will er zurück. Papier ist geduldig, Otto Körnig ist es nicht.
„Einen Gutsherrn haben sie mich genannt!“ Er schüttelt den Kopf. „Einen Gutsherrn! Bei zehn Hektar?!“ Die Leute wissen eben nicht mehr, wie wenig zehn Hektar sind. Oder wie viel. Ein Fußballfeld? Zehn? Hundert? Zwanzig sind es.
Otto Körnig war mit dem Bus zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg gefahren, um als Zuschauer dabei zu sein, als die sieben Richter aus sieben Ländern ihr Urteil gesprochen haben. Das Gesetz, wonach Eigentümer von Bodenreformland dieses zurückgeben müssen, falls sie nicht mindestens die letzten zehn DDR-Jahre in der Landwirtschaft gearbeitet haben, dieses Gesetz verstößt gegen die Europäische Menschenrechtskonvention. Körnig wäre sicher auch geritten, nur um diesen Sieg vom ersten Augenblick an schmecken zu können – auch wenn’s nur Papier mit einem Urteil auf Französisch ist.
Als er heimgekehrt war, sagte dann jemand „Gutsherr“ zu ihm. Was für ein Zinnober! Es geht um zehn Hektar Bodenreformland, von Großmutter Luise Seupt geerbt. Das will Körnig zurück, deswegen die Akten auf dem Tisch. Er hat die Zettel neulich auseinander geheftet, theoretisch müsste alles noch auf dem Schreibtisch liegen. Aber praktisch? Es fehlt ja schon die Bodenreformurkunde der Großmutter. Die liegt im „Amt für Landwirtschaft und Flurneuordnung“ in Dessau, wo sie ihm der Oberregierungsrat abgeknöpft hat wie das dazugehörige Land.
„Flurneuordnung“ ist ein argloses Wort. In Mosigkau hat der Staat in Gestalt des Landes Sachsen-Anhalt vertreten durch Oberregierungsrat N. die Flur auf Otto Körnigs Kosten neu geordnet. Und der ehemalige Schlosser, LPG-Bauer und damaliger Ponyhofbetreiber, ein Unternehmer mit Pferden, Speise- und Schankwirtschaft, war mit einem Federstrich alles los, als ob man einen Mann bis auf die Unterhose auszieht und zum Schluss die Eier abschneidet wie bei einem Hengst. Es war rechtmäßig nach dem Einführungsgesetz des Bürgerlichen Gesetzbuches, sechster Teil, drittes Buch „Sachenrecht“, zweiter Abschnitt, und so weiter und so fort – ein Gesetz wie ein Strick. So macht man aus Bürgern Untertanen.
Einziger Ausweg, das Land zu behalten: Körnig müsse sein Erbe zum Verkehrswert vom Amt „zurückkaufen“ – innerhalb von vier Wochen und bei Bezahlung des Sachverständigen, der diesen Wert ermittelt. Otto Körnig hat seinen Garten hinterm Haus, rund 2.500 Quadratmeter, für 8.600 Mark „erworben“. Körnig schiebt das Papier beiseite. „Was blieb mir weiter übrig? Ohne den Garten mit der Koppel hätte ich den Ponyhof mitsamt Gaststätte gleich schließen können.“ Körnig spricht ruhig, sich aufzuregen ist ungesund. „Ich habe damals gedacht, ich bin ein Schwerverbrecher.“ Am 4. Dezember 1996 war Otto Körnig seinen Acker los. Dieses Gefühl war ihm nicht fremd.
„Irrtümlich verstaatlicht“
Das erste Mal wurde Otto Körnig von der DDR enteignet. „Otto, da ist was schief gelaufen“, haben seine LPG-Chefs 1990 herumgedruckst, als er sein Land für den Ponyhof aus der LPG herauslösen wollte. „Die haben mir gesagt, dass das Land 1985 irrtümlich verstaatlicht worden ist.“ Ging so was? „Doch, doch, das ging“, sagt Körnig beschaulich. In der DDR hatten Grundbücher musealen Wert, letzten Endes war jeder Maulwurfshügel „Volkseigentum“. Eigentum an Grund und Boden war seit der Bodenreform von 1945 nur ein Wort, eine theoretische Größe, etwas Papiernes.
Die Staatsmacht gab damals Großmutter Luise Seupt zehn Hektar von dem Land, das sie vorher dem adligen Damenstift Mosigkau abgenommen hatte. Wen juckt’s, wenn LPG-Funktionäre den Eintrag „überarbeiten“ lassen? Eine Staatsmacht, die gibt, kann auch nehmen. Das war die neue, höhere Gerechtigkeit, die übersteigt ein Bauernhirn. Körnig bekam sein Land nicht zurück. Als im März 1990 das „Modrow-Gesetz“ kam, guckte er in die Röhre. Das Gesetz, das unter der Modrow-Regierung von der DDR-Volkskammer verabschiedet wurde, wandelte das Bodenreformland in vollwertiges Eigentum. Körnig nutzte das nichts, sein Land war weg. Den Ponyhof eröffnete er 1991 trotzdem – auf gepachtetem Land.
Die DDR-Enteignung war noch längst nicht unwirksam geworden, da kam 1992 mit dem Kohl-Gesetz über die Abwicklung der Bodenreform schon die nächste. „Auflassung“ ist das juristisch korrekte Wort. Otto Körnig hatte danach seine persönliche „Auflassung“ – im Brustkorb und mit einem Skalpell: Bypassoperation nach zwei Herzinfarkten. Danach hat er Ponyhof und Gaststätte geschlossen. Die Mediziner sagten, Körnig habe sich übernommen. Aber was verstehen Ärzte von Gerechtigkeit?
Körnig versteht eine ganze Menge davon: Zivilklage Landgericht Dessau, Bürgersprechstunde bei der Justizministerin von Sachsen-Anhalt, Petition im Landtag, Zivilklage Oberlandesgericht Naumburg, Mitglied im Verein „Gegen die Abwicklung der Bodenreform“, 1.040,40 Euro Gebühren für Staatshaftungsbeschwerde, 3.121,20 Euro Gerichtskosten aus Dessau, dazu die aus Naumburg, Anwaltskosten und die Pacht für Land, das nicht seins ist.
Am Montag, den 8. Oktober 2001 liegt Körnig auf seinem Hof und der Dackel Bobby kläfft und kläfft, bis der Nachbar kommt. Schlaganfall. „Ich hab dagelegen wie ein Baby“, sagt Körnig so gerührt, als ob er vom Christkind spräche. Das Schreiben musste er wieder erlernen, das Sprechen und das Gehen auch. Jetzt ist er mit 48 Jahren Invalidenrentner.
Der Papierwust vor Otto Körnig bleibt undurchschaubar, da half all das Blättern nicht. Knapp 60 Jahre Nachkriegsgeschichte liegen beieinander, Recht und Unrecht, Besitz und Enteignung stapeln sich friedlich. Nur die Bodenreformurkunde ist weg. Das Geld, das Körnig für seinen Garten hergab, hat das Land Sachsen-Anhalt längst ausgegeben. Und von der Summe, die 1995 die Firma Infra-Plan gezahlt hat, weil sie ihr Wohn- und Gewerbegebiet zum Teil auf Körnigs Acker gebaut hat, hat er keinen Pfennig gesehen. Dafür begleicht er Anwaltsrechnungen.
Andere haben aufgegeben. Körnig trifft demnächst wieder seinen Advokaten. Die Sache ist nicht ausgestanden. Straßburg war erst ein Etappensieg. Das Großmutterland hat er noch lange nicht zurück. Otto Körnig ist stur wie sein Kamerun-Schaf, aufmerksam wie sein Wachhund Bobby und stolz wie sein Pferd Landlord, und er hat so viele Leben wie sein Kater Rudi. Apropos Tiere. Höchste Zeit, das Viehzeug zu füttern! Danach geht’s zur Karnevalssitzung.
Am nächsten Morgen tritt Körnig wie aus dem Ei gepellt aus seinem Haus. Die Reise geht nach Nachterstedt in den Ostharz. Der „Verein gegen die Abwicklung der Bodenreform“ trifft sich im Festsaal des Hotels „Zum Schwan“. Es scheint wie eine Montagsdemo für Senioren oder die Jahreshauptversammlung einer greisen LPG. Otto Körnig ist einer der Jüngsten. Es riecht nach Lederjacken und Menthol, von der Decke baumelt eine Disko-Kugel und eine Frau hält sich an ihrer Krücke fest. Draußen stehen Sanitäter.
„Bleiben Sie dranne!“
„Wer sich nicht wehrt, lebt verkehrt!“, tönt es von der Bühne. Die Revolution ist noch nicht zu Ende. „Der Initiator des Modrow-Gesetzes, Doktor Hans Modrow, möchte Glückwünsche übermitteln“, ruft der Moderator von der PDS, und einem Parteifreund quillt das Herz über: „Ich habe einfach das Bedürfnis, mich bei allen zu bedanken! Sie haben da was erreicht, wo wir als PDS zu schwach waren! Bleiben Sie dranne!“ Jetzt kommen Blumen und Frau Dr. Beate Grün. Die Anwältin aus Fürth hat den Straßburger Prozess geführt, die Menge hängt an ihren Lippen.
Nach all dem Elend scheint sie die Wunderheilerin zu sein. Es wird ein Proseminar über Rechtswissenschaften. „Reicht das, wenn ich einen Antrag auf Rückführung stelle?“, fragt eine Frau. Die Juristin donnert: „Es wird nicht ausreichen, irgendwo Ansprüche geltend zu machen, denn dann bekommen Sie das, was die Politik übrig lässt! Gehen Sie in den Angriff, lassen Sie sich keine Zeit mehr!“ Skeptische Blicke im Saal.
In den Köpfen werden neue Anwaltskosten zu den alten summiert. Ein Rentnerhirn ist dafür bald zu eng. Das Kohl-Gesetz ist gekippt. Jedenfalls fast. Der Wind hat sich gedreht, ein Vorfrühlingslüftchen weht über Anhalt. Auf der Fahrt am Morgen lag der erste Igel überfahren auf der Straße. Kein gutes Zeichen. Was soll’s? Otto Körnig lebt.