: Kein neues Morgenland in Sicht
Arabische Intellektuelle ordnen die US-Besetzung des Irak in den historischen Kontext seit der Kolonialzeit ein
Die Kolonisierung nach dem Ersten Weltkrieg ist ein Trauma, das in der arabischen Welt bis heute den politischen Diskurs prägt. Die Besetzung des Iraks durch die USA hat nun alte Ängste über eine Wiederkehr dieser Ära geweckt. Bereits im Dezember letzten Jahres erschien das vielleicht wichtigste Buch zum Thema, das des libanesischen Publizisten Ghassan Tueni. „Der Terror und der Irak während des kommenden Krieges“ fragte angesichts der Lethargie der arabischen Regierungen, wie denn ein Minimum an Übereinstimmung in der Region erreicht werden könnte, um eine neue Epoche des kolonialen Teile-und-Herrsche, diesmal unter US-Vorzeichen, zu verhindern.
Doch Tueni, wie viele seiner Kollegen, sieht den arabischen Geist letztendlich in einem engen Korsett eingeschnürt. Die Nomenklatura habe nichts anderes als Repräsentation im Sinne, und die Armeen seien der Inbegriff von Repression gegenüber der eigenen Bevölkerung. Als im Januar und im Februar die Massen auf den Straßen der westlichen Metropolen demonstrierten, fiel den arabischen Regimes nichts anderes ein, als ihre Polizeien zu schicken, um die eigene Bevölkerung in Schach zu halten.
Während überall in der Welt Kritik an der US-Politik laut wurde, ging es den arabischen Politikern um ganz andere Fragen: Etwa darum, ob der arabische Gipfel Anfang März als regulärer oder als Sondergipfel tituliert werden sollte, oder ob es eine gute Idee sei, Deputationen aus peripheren arabischen Ländern wie Mauretanien in die Metropolen der Welt zu senden, um vor deren Regierungen die „Sache Irak“ vorzutragen.
Das rasche Fall Bagdads hat nun auch die arabischen Intellektuellen tief getroffen und entzweit. Auf der einen Seite kam es zu sarkastischen Kommentaren wie dem des irakischen Dissidenten Nadjim Walli, der einen ironischen Brief „an den höchsten Führer unseres Landes“ verfasste: „Wir trauten unseren Augen nicht“, schrieb er, „dass du dein großartiges literarisches Niveau so unterschreitest wie dieses Mal. Du, Autor herrlicher Epen, der du so herrlich über dein Land sprichst, über dein herrliches Volk und Lektionen im Heldentum gibst.“
Solcher Hohn gegen den ehemaligen irakischen Diktator stand nicht allein. Kollegen aus Kuwait und anderen Golfstaaten schrieben massenhaft unflätige Traktate, sodass andere Schriftsteller und Autoren sich wiederum genötigt sahen, sie in die Schranken zu weisen. Der algerische Exminister M. D. Amimour veröffentlichte im angesehenen prosaudischen, in London erscheinenden Blatt al-Shark al-Awssat einen längeren Aufsatz, in dem er die Schädlichkeit solcher Hasstiraden geißelte. Seine Haltung wird auch von dem Schriftsteller Marsi Attallah geteilt, der im Feuilleton der Kairoer Zeitung al-Ahram schrieb: „Wie können es einige Leute wagen, sich gegenüber dem, was im Irak passiert, taub zu stellen, nur um alte Zwistigkeiten aufzuwärmen?“
Doch Saddams Regime erfuhr während des Irakkriegs auch ungeahnten Zuspruch – am meisten aus dem Libanon, wo es innerhalb der arabischen Welt noch am ehesten möglich ist, sich frei zu äußern. Die Begründung der Angriffe gegen das irakische Regime heute, schrieb Hassan Bayan, Dozent und Schriftsteller, ähnele auffällig der Suezkrise von 1965, als britische und französische Streitkräfte eine vorab mit Israel abgesprochene Attacke gegen Ägypten inszenierten. Wie diese Länder die Schifffahrt im Suezkanal zu sichern vorgaben, so verführen heute nun auch die USA. Damals schon sei es einzig und allein darum gegangen, die Unabhängigkeit Ägyptens rückgängig zu machen, um das Land unter die Kontrolle der USA zu bringen. Deshalb sei heute die Verteidigung des Iraks samt seines Regimes und seines Führers der einzige Weg, um die nationalen Errungenschaften des Landes zu bewahren.
Derartige Manifeste waren in den letzen Wochen auch in Kairo zu lesen, und die Regierung wurde aufgefordert, den Suezkanal für US-amerikanische und britische Schiffe zu sperren. Das schnelle Ende des Krieges nun hat der ägyptischen Regierung diese Entscheidung abgenommen, die auch mit einer Klage vor einem Gericht am 15. April herbeigeführt werden sollte.
Einig sind sich die meisten arabischen Autoren nur in einem einzigen Punkt: eine Batterie an Publikationen, mit der sich ganze Regalwände füllen lassen, und eine bunt gemischte Autorenschaft aus Politikern, Militärstrategen, Schriftstellern und Kolumnisten befasst sich mit der Rolle Israels in diesem Konflikt: als Mitvorbereiter, Mithelfer und alleiniger Nutznießer der Invasion. Unisono erklingt die Wehklage, die eine durchwegs düstere Zukunft beschwört. Befürchtet wird eine gefährliche Zangenlage für die Araber: Im Osten durch die US-Truppen und im Westen durch Israel eingeschlossen, könnte die neue Situation, wie der syrische Schriftsteller Achmed Nagi schreibt, dramatische Folgen zeitigen, „bis hin zur kollektiven Umsiedlung der Palästinenser in das arabische Hinterland“. Und der Herausgeber der Londoner al-Hayat macht sogar eine organische Bindung zwischen der heutigen US- Militärführung und der in Israel herrschenden Likud-Partei aus. „Aber auch das arabische Phlegma, die Furcht lokaler Herrscher vor dem Machtverlust und die Unterdrückung der Meinungsfreiheit haben seit Beginn der Fünfzigerjahre ihren Beitrag geleistet. Und dass Israel heute zu einer Regierung à la Scharon gekommen ist, dürfte auch das Ergebnis der völligen Abwesenheit jeder arabischen Diplomatie sein.“ JACQUES NAOUM