: „Jeder baut sich den eigenen Film“
Pädagoge Dieter Lenzen will Kindern die Medienanalyse in der Schule beibringen
taz: Herr Lenzen, Pro Sieben zeigt den brutalen Film „Der Soldat James Ryan“ um 20.15 Uhr. Haben Medien nichts aus Erfurt gelernt?
Dieter Lenzen: Im Gegenteil. Wenn ein Film ein Antikriegsfilm ist, dann dieser. Die Darstellung von Gewalt kann sogar Abscheu vor Brutalität nahe legen und Mitgefühl mit Opfern wecken. Jugendlichen Gewalt im Fernsehen vorzuenthalten ist also falsch – wichtig ist die Frage: Welche Gewalt und wie wird sie gemacht? Diese Debatte gibt es leider nicht.
Dafür gibt es ein neues Jugendschutzgesetz. Ballerspiele für Computer haben jetzt Aufkleber mit Altersangaben – zu Recht?
Die Regelung hat hauptsächlich einen Zweck: Politiker können zeigen, dass sie etwas getan haben – machen aber den zweiten Schritt vor dem ersten: Es gibt keine gesicherten Erkenntnisse über die Wirkung. Im Egoshooter Counterstrike kann der vibrierende Joystick den Rückschlag von Waffen sehr drastisch an den Spieler übermitteln. Das kann im Kopf beides auslösen: Abscheu oder Faszination.
Bei diesem Spiel mussten Programmierer bereits das Blut in Grün umfärben …
… was grober Unfug ist. Damit wird das Opfer ja sogar noch verharmlost. Das ist aufmerksamkeitsheischender Aktionismus der Politik, der nichts an der Sachlage ändert.
Thüringens Schulen sollen Eltern besser über Verstöße von Schülern informieren. Ist das auch Aktionismus?
Die Nachlässigkeit vieler Eltern ist tatsächlich nicht zu übersehen. Dieses Gesetz zwingt sie dazu, Lernprozesse ihrer Kinder wahrzunehmen – auch wenn sie es vielleicht gar nicht wollen.
Wer nach Erfurt wenig getan hat, ist die freiwillige Selbstkontrolle der Fernsehsender.
Das stimmt, es wäre aber auch falsch. Gewaltverherrlichung ist bereits definiert und verboten. Wenn ein Verbrecher aber Gewalt anwendet und die Polizei ihn gewaltsam festnimmt, greift die Selbstkontrolle berechtigterweise nicht.
Stumpft nicht die alltägliche Schlägerei im „Tatort“ Jugendliche viel eher ab als Horrorfilme und brutale Spiele?
Alles hängt von der persönlichen Wahrnehmung ab – jeder baut sich den eigenen Film im Kopf. Jungen interessieren sich bei Egoshootern weniger dafür, ob sie jemanden töten. Es geht um Wettbewerb, um Geschwindigkeit, wer schießt schneller. Wenn sie aber kontakt- oder kommunikationsgestört sind, kann das Auswirkungen auf das reale Verhältnis zu Gewalt haben.
Wenn Sie schärfere Jugendschutzgesetze ablehnen – was fordern Sie nach dem Erfurter Attentat?
Wir müssen für unsere Kinder, besonders für Risikogruppen, Medienpädagogik organisieren. Jeder Deutschkurs in der Schule bespricht den Inhalt von Romanen. Das muss genauso mit Medien wie Film und Fernsehen passieren. Welche Mittel nutzt ein Regisseur, um mich zu beeinflussen? Auf solche Fragen brauchen Kinder Antworten.
INTERVIEW: ULRICH SCHULTE