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Archiv-Artikel

Gouverneur ist der Kommandeur

„Wir müssen wohl hier regieren, zumindest so lange, bis irgendjemand etwas Besseres einfällt“

aus Kirkuk KARIM EL-GAWHARY

Sergeant Gueringer ist im Namen von Ordnung und Gerechtigkeit unterwegs, und in diesem Fall erfordert die Angelegenheit ganz klar „action“. Kirkuk, im Norden Iraks. Ein Übersetzer hat dem US-Soldaten gerade vermittelt, dass die tränenüberströmte irakische Frau vor ihm im Namen Gottes schwört, ein bewaffneter Kurde habe sie samt Familie aus ihrem Haus vertrieben. Die entsprechende Eintragung ins Grundbuchamt von Kirkuk hat sie gleich mitgebracht.

Sergeant Gueringer zögert keine Sekunde und befiehlt seinen Leuten sowie den sie begleitenden fünf irakischen Polizisten, das Haus zu sichern. Filmreif erobern sie die Villa, und heraus kommt ein stoisch dreinblickender schnauzbärtiger Kurde, der gerade dabei war, das Gebäude für eine kleine kurdische Splitterpartei einzurichten. Seine zwei Kalaschnikows werden konfisziert.

Sergeant Gueringer und sein irakischer Übersetzer sind ein eingespieltes Team: Immer wenn der US-Unteroffizier die Stimme erhebt, beginnt auch sein Übersetzer auf Arabisch zu schreien. „Fass mich nicht an, keine Diskussion, du verschwindest hier, und wir wollen dich hier nicht wiedersehen“, heißt es dort etwa in zweisprachiger Wortwahl. Der übersetzte Einwand des Kurden, der Besitzer des Hauses sei doch ein ehemaliger hoher Geheimdienstoffizier, der nach Bagdad geflohen sei und seine Familie zurückgelassen habe, will Sergeant Gueringer nicht gelten lassen. Die Papiere beweisen: Rechtmäßiger Eigentümer sei die Familie der Frau – Punkt. Aus.

Der Kurde flüstert der Araberin etwas auf Kurdisch zu und schreitet anschließend gemächlich davon. „Sag der Familie, dass sie ihr Haus hiermit zurückhat“, befiehlt Sergeant Gueringer seinem Übersetzer. Alles schön und gut, meint die Frau dazu, aber der Mann habe ihr gerade auf Kurdisch zugeflüstert, sie könne etwas erleben, wenn die Amerikaner erst einmal weg sind.

Sergeants Gueringers Ehre steht auf dem Spiel. Nehmt den Mann fest, befiehlt er seinen Boys. Was folgt, ist wie eine Szene aus „Miami Vice“: „Keine Bewegung, Sie sind verhaftet!“ Mehrere Soldaten stürzen sich auf den Kurden, drücken ihn in den Straßenstaub, drehen ihm die Arme auf den Rücken und legen Plastikhandschellen an, während die anderen ihre Waffe auf ihn richten. Wutschnaubend kommen Sergeant Gueringer und sein Übersetzer angelaufen. „Du glaubst wohl, wir sind Vollidioten. Du hast Glück, dass wir dich jetzt verhaften, denn wenn du zurückgekommen wärst, hätten wir dich erschossen“, wird zweisprachig Dampf abgelassen.

Die 173. US-Luftlandeeinheit in Kirkuk hat in den letzten Tagen erfahren müssen, dass irakisches Öl nicht billig ist. Wenn sie die reichen Ölfelder rund um die Stadt kontrollieren will, muss sie auch in der Stadt für Ordnung sorgen, in der sich eine explosive Mischung aus Kurden, Arabern und Turkmenen um Besitz und Pfründen streitet. Der Sprecher der US-Einheit, Major Robert Gowan aus Newston, Texas, fühlte sich sicherlich wohler in der Uniform des Eroberers als jetzt in der des Kolonialverwalters. „Als wir vor wenigen Wochen auf den Flugplätzen im Norden der kurdischen autonomen Gebiete gelandet sind, haben wir nicht darüber nachgedacht, dass wir bald eine ganze Stadt verwalten würden“, erklärt Gowan.

Aus der Perspektive der Menschen in Kirkuk stellt sich derzeit die Frage, an wen sie sich wenden sollen, wenn sie ein Problem haben: an die offiziellen Herrscher der Stadt, die Amerikaner, an die von ihnen eingesetzten irakischen Verwalter oder an die PUK, die Patriotische Union Kurdistans des Dschalal Talabani, dem Schattenherrscher der Stadt.

Und Probleme gibt es mehr als genug. Die Leute drängen sich vor dem Tor des Hauptquartiers der US-Zivilverwaltung mit den widersprüchlichen Namen „Zivile Militärverwaltung“. Da sucht etwa der Turkmene Muatazim Belawi Gehör, der einst in einem benachbarten Dorf namens Belawa gelebt hatte, bevor es 1986 zur Militärzone erklärt worden war. Die 160 turkmenischen Familien mussten gehen, ihre Häuser wurden meist Arabern aus dem Süden überlassen. Muatazim möchte in sein Haus zurück. „Wir hängen von denen ab, die uns befreit haben“, sagt er. Die Amerikaner könnten sie doch nicht so einfach im Stich lassen.

Am Tor bekommt er ein Formular ausgehändigt, um seinen Fall erst einmal schriftlich darzustellen. Neben ihm versucht sich die Araberin Scheima Fadl Hussein Einlass zu verschaffen. Sie sei von den Leuten der PUK aus ihrem Haus vertrieben worden, behauptet sie, und habe nun für ihre Familie ein Zimmer in der Stadt gemietet. Sie ist 1986 aus dem südlichen Diwanija hierher gekommen und habe ihr Haus damals gekauft. „Selbst in der jetzt gemieteten Wohnung kommen die PUK-Leute immer um Mitternacht, suchen nach Waffen und bedrohen uns“, erzählt sie und gibt offen zu, Mitglied der Baath-Partei gewesen zu sein. „Wir sind kleine Fische und nicht auf der Liste der 55 gesuchten Regimevertreter. Wir haben auch unsere Rechte, als Araber und Irakis“, erklärt sie. Sie sei gekommen, um sich bei den Amerikanern über die PUK-Leute zu beschweren, hat allerdings wenig Hoffnung. Immerhin: „Die Amerikaner sind besser als die Muslime der PUK.“

Die Araberin Mariam Achmed hat schon überall angeklopft, bei der Bezirksverwaltung und bei der Polizei. Als sie nach dem Krieg im Auto mit ihrer Familie zurück in die Stadt gekommen sei, hätten die Leute der PUK ihr ein Gewehr an den Kopf gehalten und sie und ihre Kinder aufgefordert auszusteigen. „Suche dein Auto selbst“, lautet jetzt der Rat auf der Polizeistation.

Kein Wunder, ein Großteil der irakischen Polizeikräfte in Kirkuk besteht aus Kurden, wie etwa der Offizier, der sich nur als Abu Noha vorstellt. In den Achtzigerjahren hat er in den Bergen bei den kurdischen Befreiungskämpfern mitgekämpft, bevor er 1991 im kurdischen Suleimanija in der damals neu geschaffenen Polizeiakademie ausgebildet wurde. Die Araber, sagt er, hätten seit den Sechzigerjahren kurdisches Land geraubt, kurdischen Besitz gestohlen und kurdische Frauen vergewaltigt. „Sie hatten ihren Part, jetzt kommt unserer“, fasst er die Lage kurz zusammen. Kirkuk, glaubt er, stehe keine einfache Zukunft bevor, jede Volksgruppe habe so ihre Erfahrungen mit der anderen.

„Du hast Glück, dass wir dich jetzt verhaften, wärst du zurückgekommen, hätten wir dich erschossen“

In der Bezirksverwaltung selbst haben die Amerikaner unterdessen nach zähen Verhandlungen einen „Sicherheitsrat“ für die Stadt gegründet, in dem alle Volksgruppen paritätisch vertreten sind. Sie können jetzt über die Verwaltung und die politische Neuordnung der Stadt streiten, und am Ende haben die USA, ähnlich wie in New York, auch im Sicherheitsrat von Kirkuk das Vetorecht.

„Der Gouverneur der Stadt ist im Moment der Kommandeur der 173. US-Luftlandeeinheit“, beschreibt Major Gowan die Machtverhältnisse. „Gemäß internationalem Recht setzen wir hier einen Ausnahmezustand durch, und dabei haben wir bestimmte Verantwortlichkeiten“, erklärt er. Das Wort „Besatzer“ hört Major Gowan nicht so gerne. Natürlich liefen die USA immer wieder Gefahr, als Besatzer angesehen zu werden, wenn sie ihre Truppen außerhalb einsetzen. Aber, so der US-Offizier: „Das ist nicht unsere Absicht.“

Genauso wenig wie es die Absicht sei, die Stadt zu beherrschen und lange zu halten. „Wir sind hier, um Gesetz und Recht durchzusetzen.“ Das sei allerdings ziemlich anstrengend mit all den verschiedenen Gruppen, sagt er. Auch sei das sicherlich nicht an einem Tag erledigt. Die Stadt sei instabil, und die Gruppen kämpften um ihre Ansprüche. „Ein Zivilist mit einer Kalaschnikow über seiner Schulter bedeutet selten etwas Gutes“, meint Gowan. „Und diese Stadt ist voll davon.“

In all dem Chaos scheint die Befehlskette der Amerikaner in der Nachkriegszeit genauso unterbrochen wie die der Iraker während des Krieges. US-Präsident George W. Bush hat den pensionierten General Jay Garner damit beauftragt, im Irak als eine Art Militärgouverneur eine neue zivile Verwaltung und eine irakische Übergangsregierung zu schaffen. Ein Konstrukt, das offensichtlich nicht bis nach Kirkuk im Norden Iraks vorgedrungen ist. Er habe gehört, dass „dieser Garner irgendwo in der Gegend herumtourt“, aber bisher sei er in Kirkuk nicht gesehen worden, sagt Major Gowan offen.

„Ja, ich habe schon von diesem General für die Zivilverwaltung gehört, wie heißt er doch gleich“, fragt sich Major Mike Grondin aus dem US-Bundesstaat Maine, der an einer Tankstelle in Kirkuk für Ordnung sorgt. Mitten in der Ölstadt Kirkuk stehen dort hunderte Autos in der Schlange, um endlich an die 20 Liter Benzin fürs Auto zu kommen. Kurden, Araber und Turkmenen sind hier vereint in ihrem Frust. Die meisten haben in der Schlange im Auto übernachtet. Bis sie Stunden später an der Zapfsäule ankommen, liegen die Nerven meist blank. „Bisher ist aber noch niemand explodiert“, sagt Major Grondin aus Maine ruhig. Der Offizier hat sich vor ein paar Wochen nicht träumen lassen, dass er irgendwann einmal an einer Tankstelle in Kirkuk stehen und aufgebrachte Iraker beruhigen wird. Immerhin trägt er es mit Fassung. „Im Moment müssen wir wohl hier regieren“, sagt er, „zumindest so lange, bis irgendjemand etwas Besseres einfällt.“