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Archiv-Artikel

Gewöhnlich werden war das Problem

„Wir funken bis zum Untergang, ins Weltall kilometerlang“, textete 1923 Kurt Schwitters über den Berliner Rundfunk. 80 Jahre später und kurz nach seinem 50. Geburtstag ist der Sender Freies Berlin heute das letzte Mal auf Sendung. Erinnerungen an eine Welle mit heimlichem Programmauftrag

„Liebling Kreuzberg“ – die neue deutsche Serie, kein Kaugummi fürs Gehirn

von NORBERT SCHNEIDER

Man kann die vergangenen fünfzig Jahre SFB nicht angemessen würdigen. Man kann sie nicht einmal halbwegs sichten. Am besten sagt man, woran man sich selbst erinnert. Und da fällt jedem etwas anderes ein und mir erst einmal die Jahre, die ich autonom überblicke, subjektiv natürlich, wie denn sonst!

Es war nicht etwa der WDR, es war am Ende der SFB, der „Heimat“ für die ARD gerettet hat, jenes Ereignis „Heimat“ mit einer Titelgeschichte im Spiegel – ein Ereignis, das man, ganz abgesehen von seiner singulären Qualität, im Rückblick als die Mutter aller Events bewerten darf. So wie „Im Zeichen des Kreuzes“ ein Testfall auf das Stehvermögen dieses Senders wurde. Er war so frei.

„Alles Berlin. Berlin in allem“ – das schloss gerade nicht aus, einigen Kabarettisten aus Bayern 1980 Funkasyl zu gewähren, im Namen des freien Berlin und eines Senders, der so frei war, eine Anregung aus der damaligen Baracke – man sieht: nicht jede war vom Übel – aufzugreifen. Ich füge freilich für Jüngere hinzu, dass es in den 80er-Jahren, also noch vor den sich als Komiker gebenden Tabubrechern und ihrem Erbrochenen, eine jederzeit hochriskante Sache war, über Kanalratten, Flussläufe und ihr dunkles Zustandekommen zu spekulieren. Ganz abgesehen davon, dass man dem Scheibenwischer bis heute keine Programmplatzkarte ausgestellt hat. Aber manches erledigt sich von selbst.

Es war „Liebling Kreuzberg, die Ouvertüre der neuen deutschen Serie: ein Gegenstück zu „Dallas“, eine Serie, von der die Wissenschaft sagt, sie sei subversiv gewesen, also nicht Kaugummi fürs Gehirn, wie ein Herr dieses Hauses meinte – „Liebling Kreuzberg“, die Bücher von Jurek Becker für Manfred Krug in neuem Ruhm.

Liest man sich noch einmal durch die Fachdienste und Chroniken, dann liest man in einem „Who is who“ des politischen und kulturellen Lebens in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Irgendwann waren sie alle einmal da. Ich nenne, unabsichtlich unhöflich und ungerecht, nur ein paar. Darunter, was nur Ahnungslose wundern kann, kaum Frauen.

Rolf Liebermann und Ernst Schnabel werden für das eigene Dritte Programm eine Mischung aus Pate und Host. Es ist derselbe Ernst Schnabel, der „Lokaltermin in der Einbahnstraße“ erfindet, eine Sendefolge, in der, lang und genau, Peter Szondi Fragen an Theodor W. Adorno und Ernst Bloch richtet, an Max Rychner und Gershom Scholem. Fragen nach Walter Benjamin.

Das ist derselbe Schnabel, der nach dem Tod von Benno Ohnsorg im Juni 1967 das Programm ändert für eine Diskussion aus der FU mit Wolfgang Lefèvre und Knut Nevermann, Horst Mahler und Helmut Gollwitzer, Walter Jens und Kurt Sontheimer. Derselbe Schnabel, der auch nach dem Attentat auf Rudi Dutschke so verfahren will, Max Frisch einlädt, der nicht kann, dann Eugen Kogon, und der dann von Franz Barsig, dem Intendanten – man würde heute sagen – ausgebremst wird.

Schließlich derselbe Ernst Schnabel, der einen Monat später sein Amt niederlegt. Ohne Angabe von Gründen. Aus Berlin kommt übrigens auch Lernt Rheinisch mit dem Bundeskanzler. Es ist lange her.

Unter den frühen Fernsehspielen fällt „Abschied“ aus dem März 1996 ins Auge. Man muss sich den Abspann im Auge zergehen lassen: Autor: Günther Herburger. Regie: Peter Lilienthal. Musik: Albert Mangelsdorff. Kamera: Michael Ballhaus. Es gibt eine Reihe wie „Ein Gedicht und sein Autor, die Eröffnungssendung mit Lars Gustafssohn und seinem Übersetzer Hans Magnus Enzensberger. Überhaupt: der SFB, Walter Höllerer und das „Literarische Kolloquium!“ Aber es ist nicht nur die E-Kultur. Es ist genauso „Mein Gästebuch“ mit Udo Jürgens. Man kam auch nicht vorbei an diesem Sender, wenn, von der ARD beseufzt, Funkausstellung war. Als das Farbfernsehen startet, gibt es den „Abend der Schallplatte“. Bei Dietmar Schönherr und Vivi Bach sind Mahalia Jackson, Juliette Greco, Hildegard Knef.

Nach 1968 ist dieser Sender mehr denn je in Hochform. Ende der Siebziger bricht der „Radiofrühling“ aus, für dessen Sommer es zu wenig Schwalben gab. Längst gibt es „s-f-beat“. Und Kulturredakteure, die jeden Tag die Grenzen testen. Ich nenne für viele Klaus Schulz.

In diesen Zeiten zumal konkurrieren eine erregungssüchtige Stadt, ein erregungsfähiger Sender und ein eher ängstlicher Rundfunkrat, der aufatmet, als bewiesen werden kann, dass ein anstößiges Programm sich nur in den Augen eines Zuschauers, nicht aber auf dem Schirm abgespielt hat. Was leider belegt, dass auch Kurzsichtige fernsehen dürfen.

Dieser Rundfunkrat hat, inspiriert, wenn ich das einmal so sagen darf, durch Klaus Rüdiger Landowsky, der auch in diesem Gremium eine Bank war – er hat, als es besetzte Häuser gab und davon berichtet wurde, die Dinge auf den Kopf gestellt und die Distanz des Senders zur Bevölkerung moniert. Von Entfremdung geraunt. Also genau die Vorhaltung, mit der man seit Isaaks Zeiten Esau zu Tode erschrecken konnte.

Habe ich schon „Leute“ erwähnt, Wolfgang Menge, Gisela Marx, Elke Heidenreich? Wenn Sie mich fragen – aber wer fragt mich schon! – die wahrscheinlich beste Talk-Show, zu der es ein ARD-Sender je gebracht hat (7. 3. 1983), aber mit eben mal vier Jahren auch die kürzeste (27. 2. 1987). Auch hier hat der Rundfunkrat seine Satireresistenz gezeigt, als Gisela Marx sich an Heinrich Lummer verging, verbal – Tote säumen seinen Weg –,und dann nach Indien fuhr. Auch hier hat die Aufsicht gezeigt, wie schwer es ihr gelegentlich fällt zu unterscheiden zwischen Problemen, für die es keine Lösung und Lösungen, für die es keine Probleme gibt.

Dann kommt das Jahr 1989. Der Einschnitt in alles. Der Historiker Eric Hobsbawm lässt mit diesem Jahr das „kurze 20. Jahrhundert“, wie er es nennt, enden. 1914 bis 1989. Nur langsam – darin in allerbester Gesellschaft – merkt der Sender, dass damit auch seine Raison d’être sich scharf verändert. Noch immer gilt zwar, wenn der Flurfunk Recht hat, das Credo föderaler Rundfunkpolitik: Cuius regio eius Radio. Doch das meiste andere hat sich verändert. Keine Insel mehr, kein RIAS mehr, der SFB ein Sender ohne besondere Sendung mit einem Namen, den nicht mehr alle verstehen. Eine Sekretärin in meinem Büro, jung, aus dem Umland von Köln und aus anderen Zeiten, schreibt in meinen Terminplan für heute: „Senderfreies Berlin“.

Von heute auf morgen keine Grenze mehr, über die man programmatisch hinwegsendet. Keine Freunde von drüben mit deren verbotener Liebe. Stattdessen gibt es einen neuen Sender. Womöglich wieder so einen Jacob? Stattdessen muss die Stadt wieder Hauptstadt werden und bekommt neue Blätter und ein neues Klima. In vieler Hinsicht, so sieht sich das aus der Distanz wenigstens an, hat dieser Mohr nun seine Schuldigkeit getan. Doch da er wie fast alle Mohren gar nicht gehen kann, muss er gewöhnlich werden. Nicht zuletzt in Geldfragen.

Und es zeigt sich auch in diesem Fall: Nicht gewöhnlich sein ist das Problem. Das kann jeder. Sondern: gewöhnlich werden! So sind die letzten zehn in den fünfzig Jahren am Ende die schwerste Dekade. Was macht man, wenn einem wichtige Gründungsgründe genommen werden? Wenn der alte Sitz im Leben nicht mehr stimmt? Wenn die Kultlegende keiner mehr kennen möchte? Wenn die Gewissheiten sich verlieren, die man hatte – für gute Zeiten und für schlechte Zeiten?

Und wieder gilt: Man macht im Zweifel Programm. Und man macht es, ohne Prätention und Blei in den Schuhen, erstaunlich erfolgreich. Und mit einer Fantasie, die sich an nichts mehr gebunden fühlt. Man wird irgendwie irdischer. Was im Titel ein wenig gewollt klingt, „Gernsehabend, ist eine fabelhafte Idee. Die „Abendschau“, nun für ganz Berlin, schlägt alle andern aus dem Feld. Mit Qualität und Quote. Der Hörfunk frisiert seine Wellen. Altmeister Hallervorden ist nun erstmals beides – wenn Sie verstehen, was ich meine. Kurzum: Man gewöhnt sich.

Wir dokumentieren die gekürte Fassung der Rede Norbert Schneiders beim Symposium „Mehr als ein halbes Leben – 50 Jahre SFB“ am 25. März in Berlin