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Archiv-Artikel

„Mein Hals schnürt sich zu“

Sie hat ihre Freunde und Verwandten in Bombay sofort angerufen. Fast alle hatten Glück

Der Familie geht es gut. Das ist die Nachricht, die ich heute hören möchte. Mittwochnacht, als ich das Drama der Anschläge stumm vor Schreck im Fernsehen verfolgte, wurde eine Bekannte von mir als Augenzeugin interviewt. Ihr geht es gut, sagte sie, und schilderte die Lage, was sie sah, mit wem sie war. Ich sah nur die Polizei und die Feuerwehr, und das alles beruhigte mich gar nicht.

„Uns geht es gut,“ sagt meine Tante, als ich sie morgens anrufe. Es gibt sehr viele Tanten in Bombay, der Begriff wird, wie Familienverhältnisse überhaupt, nicht zu eng gesehen, was dazu führt, dass man eben nicht nur die nächsten Verwandten anruft, sondern alle. Die Tante also fasst sofort die Nachrichten zusammen, wie sie über das indische Fernsehen laufen. „Aber dort unten“, also keine zehn Kilometer entfernt, im Süden der Stadt, der auch eigenartigerweise das Zentrum ist, „muss es furchtbar sein. Eine Freundin der Freundin, bei der wir gestern waren, rief sofort an, als die ersten Schüsse fielen. Sie war dort“, sagt meine Tante. Sie ist auf die Art und Weise geschockt, wie Menschen in Bombay es sind. Nicht in stummer Fassungslosigkeit, nein, wenn die Menschen von Bombay geschockt sind, reden sie noch mehr als sonst.

Nächster Anruf, dieses Mal bei einer Tante aus Malabar Hill. „Uns geht es gut,“ sagt auch sie und fasst die Nachrichtenlage zusammen, wo welche Terroristen gefangen seien, wer wie vorginge, all das, was auch hier auf BBC läuft. Sie ist gelassen. Ihr Mann, sagt sie noch, aber nicht besonders aufgeregt, sei seit gestern Abend in South Bombay, stehe vor dem Trident Hotel mit einem Freund, dessen Frau und Baby dort im Zimmer sitzen. In dem Hotel, wo noch immer Terroristen Menschen gefangen halten. Gut also geht’s.

Ich lese, dass auch Israelis betroffen sein sollen. Dass sie in einer Privatwohnung festgehalten werden, und ich denke an einen Rabbi, den ich kenne. Er lebt mit seiner Frau und seinem Kind in der Nähe des Oberoi Hotels und betreibt dort einen Chabad. Eine Art Station für Juden in der Diaspora, erklärte er mir, als wir uns trafen. Wo sie sich ausruhen können, koscher essen und über Religion reden. Es saßen immer einige israelische Reisende in seinem Wohnzimmer. Sollte ich ihn anrufen? Mein Auftrag war, Informationen und Töne von Betroffenen zu sammeln, vielleicht konnte er mir helfen. Ich wähle seine Nummer. Ich werde weggedrückt. Kein gutes Zeichen. In der Keneseth Eliyahoo Synagoge geht niemand ans Telefon. Eine halbe Stunde später sehe ich auf der Website der israelischen Zeitung Ha’a- retz seinen Namen: Gabriel Holtzberg und seine Frau Rivka befinden sich in der Hand der Terroristen. Mein Hals schnürt sich zusammen. Ich kenne diesen Mann nicht gut, aber ich habe seine Stimme auf Band und sein Bild im PC. Ich weiß, was er mir gesagt hat, als ich ihn damals fragte, wie lange er plane in Indien zu bleiben: „Bis der Messias kommt.“

Über Skype sehe ich eine gute Freundin meiner Eltern. Sie lebt allein in einer großen Wohnung in der Straße hinter dem Taj. Wie ist es für sie, möchte ich wissen. Sie sagt nicht, dass es ihr gut gehe. Fast beruhigt mich das. „Ich habe mich im Haus verschanzt,“ schreibt sie. Wegen der Ausgangssperre könne sie sowieso nicht weg. „Die letzte Nacht habe ich in absoluter Angst verbracht. Dauernd hörte ich Explosionen, aus dem Taj, aus dem Rest von Colaba. Ich habe mich zusammengerissen, mir meine Ohrstöpsel eingesetzt und mich hingelegt. Aber die ganze Nacht lang wurde ich von der Angst in Krämpfen geschüttelt. Mehr kann ich dir gerade nicht sagen, ich habe den Fernseher ausgestellt, ich kann die Bilder nicht ertragen.“ Ich hingegen werde beim Tuten des Freizeichen nervös, bei der Ansage, dass ein Handy nicht erreichbar sei, auch wenn ich inzwischen alle engen Freunde und Verwandten zusammenhabe. Es ist einfach wahrscheinlich, dass die Menschen, die ich in Bombay kenne, zu diesem Zeitpunkt irgendwo sind, wo es knallt. Nitin, ein Bekannter, der hier früher als Koch arbeitete, versichert mir, dass alles in Ordnung sei. „All safe and fine,“ behauptet er, fasst die Nachrichtenlage zusammen und erwähnt, dass er gerade mit einem Angestellten des Hotels geredet hätte. Die Menschen dort haben noch immer Angst. Und ein ehemaliger Kollege von ihm sei erschossen worden. Alle sicher und geborgen? Nein, noch immer brennt das Taj, noch immer laufen Terroristen im Oberoi und anderswo herum. Aber je mehr man es dieser alten, dreckigen Stadt gibt, desto trotziger macht sie weiter. Gut so, also geht’s gut.

NATALIE TENBERG

Natalie Tenberg, 1976, ist taz-Redakteurin, reist regelmäßig zu ihren zahlreichen Tanten nach Bombay. Ihre Mutter stammt aus der Millionenstadt.