Die Farben des Geistes

40 Jahre edition suhrkamp

Like Bloch and Benjamin, Adorno has profited formidably from what one might call the ‚Suhrkamp culture‘ which now dominates so much of German high literacy and intellectual ranking. George Steiner, 1973

Diese Taschenbuchreihe ist reif fürs Museum. Wer die bundesdeutsche Geistesgeschichte der Sechzigerjahre komprimiert ausstellen will, der besorgt sich ein paar Orangenkisten und reiht säuberlich die ersten 48 Bände der edition suhrkamp auf. Das sieht hübsch aus, da der Grafiker Willy Fleckhaus die Bücher so gestaltet hat, dass die 48 Bücher nebeneinander gestellt einem Regenbogen gleichen – und damit das breite, doch präzise abgestimmte Spektrum der Reihe symbolisieren. Fertig ist die Installation, und ab in die Vitrine. Staunend neigen davor besonders die ergrauten Besucher die Häupter zur Seite und lesen auf den Buchrücken: Brechts „Leben des Galilei“ oder Hesses „Späte Prosa“, Adornos „Eingriffe“ oder Blochs „Tübinger Einleitung in die Philosophie“, Walsers „Eiche und Angora“ oder Enzensbergers „Entstehung eines Gedichts“.

So war es auch bei der Ausstellung zum 50. Geburtstag der Bundesrepublik 1999 in Berlin. Die edition suhrkamp löst Ahaerlebnisse aus wie kaum eine andere deutschsprachige Buchreihe. Kein Wunder, die bunten Bände sind zum Symbol für den geistigen Umbruch der Sechziger- und Siebzigerjahre geworden. Seit dem 2. Mai 1963 haben sie eine neue Generation von Intellektuellen geprägt. In der edition veröffentlichten zahlreiche Schriftsteller und Wissenschaftler, um endlich den adenauerreaktionären Literatur- und Universtitätsbetrieb aufzumischen. Außerdem knüpfte ihr Programm an die Traditionslinien der deutschen Geistesgeschichte an, die von der NS-Zeit unterbrochenen worden waren, allen voran die Theorien der Frankfurter Schule. Später adaptierte sie die großen intellektuellen Trends, vom französischen Strukturalismus bis zur Systemtheorie.

Erfinder der edition war der Verleger Siegfried Unseld. Vier Jahre nach dem Tod des Verlagsgründers stellte er die Prinzipien Peter Suhrkamps auf den Kopf. Der verabscheute nämlich Taschenbücher und hatte die erste Reihe des Verlages 1951 noch mit der Maxime angekündigt: „Die Bibliothek Suhrkamp ist dem wahren Bücherfreund zugedacht, jener Leser-Elite, der anzugehören das Bedürfnis aller ist, denen das gute oder erlesene Buch ein unentbehrliches Lebensgut geworden ist.“ Taschenbuchreihen wie rororo oder die Fischer-Bücherei hielt er in jeder Hinsicht für zu billig.

Weniger großbürgerlich elitär als kapitalismuskritisch lamentierte Suhrkamps junger Autor Hans-Magnus Enzensberger 1959 über die Verlage, die das „Konsumgut“ Taschenbuch den Gesetzen industrieller Massenproduktion unterwarfen: „Hinter den Erfordernissen der Serie tritt der Einzeltitel zurück. […] Das Dilemma ist ungemein charakteristisch für alle Branchen der Kulturindustrie, in die das Verlagswesen mit dem Taschenbuch nahtlos eingegangen ist.“

Unseld ließ sich davon nicht beeindrucken. Er hatte schnell gelernt, dass Verleger ästhetische Werte gegen kaufmännische Grundsätze abwägen müssen. Schließlich kennt man die Großen der Zunft nicht nur wegen ihrer Programme, sondern weil sie die auch zu verkaufen verstanden – wie Johann Friedrich Cotta, Samuel Fischer oder Ernst Rowohlt. Unseld wollte also seine „Pocketbook“-Reihe, weil er wusste: ein Verlag kann nur so intellektuell und ökonomisch wirken und überleben. Taschenbücher ließen sich billiger produzieren und waren oft keine Originalausgaben, sondern enthielten Texte, die der Verlag bereits als gebundene Bücher angeboten hatte. Die Lizenzausgabe im eigenen Haus sparte Geld und ermöglichte zusätzlich, die Werke einem breiteren Publikum zugänglich machen. Dass dieses Konzept sogar mit anspruchsvollen Titeln funktionierte, hatte die Konkurrenz Unseld in den Fünfzigerjahren vorgemacht. Rowohlt brachte in seinen rororos Hans Fallada, Honoré de Balzac, Kurt Tucholsky und Ernest Hemingway unter die Leute; die Fischer-Bücherei war erfolgreich mit Virginia Wolf, Boris Pasternak, William Golding und Thomas Mann.

Vor allem diese Reihen etablierten das Taschenbuch trotz aller kulturkritischer Häme als ernst zu nehmendes Medium. In diesem Bewusstsein gründeten 1961 mehrere angesehene Verlage (u. a. Hanser, C. H. Beck, DVA) den Deutschen Taschenbuch-Verlag dtv, in dem Werke von Alain Robbe-Grillet, Ingeborg Bachmann, Karl Jaspers und Ezra Pound erschienen. Unseld beteiligte sich nicht, da er bereits damals an seinem eigenen Taschenbuchprojekt arbeitete. Deshalb konsultierte er im Sommer 1961 mit seinen Lektoren Walter Boehlich und Karl-Markus Michel sowie die Autoren Walser, Johnson und Enzensberger. Als Einziger unterstützte Walser das Projekt; Johnson konnte dagegen mit der Idee wenig anfangen, und Enzensberger formulierte seine Bedenken sogar anschließend in einem Brief: „das maximal-programm, das du uns vorgelegt hast, ist charakteristisiert durch ein maximum von ausnutzung, verwertung, zusammenkratzen des erdenklichen; … es geht da an die substanz des verlages, dessen prestige dabei nur zu schaden kommen kann.“

Nur allmählich konnte Siegfried Unseld die Verlagsautoren, davon überzeugen, das eine Taschenbuchreihe gleichzeitig anspruchsvoll, programmatisch profiliert und massenwirksam sein kann. Um diese Ziele zu erreichen, stellte er als Lektor Günther Busch ein. Er war es, der bis Ende der Siebzigerjahre das Programm prägte und dem Verlag international ein so großes Ansehen verschaffte, dass George Steiner im Times Literary Supplement die Suhrkamp-Kultur feierte. Gemeint war jene ungewöhnliche Mischung aus klassischer Moderne in der Literatur und philosophisch fundierter Gesellschaftsanalyse, aus Psychoanalyse und Sozialkritik, die Busch wie selbstverständlich mit Roland Barthes, Michel Foucault und Umberto Eco verknüpfte. Mit diesem Spektrum unterschied sich die edition suhrkamp von allen Konkurrenten und verkörperte den Zeitgeist wohl im gleichen Maße, wie sie ihn beeinflusste.

Nach dem ersten Jahr war klar: die edition ist ein Erfolg. Buschs Mischung kam gut an bei Buchhändlern, Lesern und Feuilletonisten. Verwundert schrieb etwa ein Ulmer Bahnhofsbuchhändler an den Verlag: „Sicher werden Sie erstaunt sein, welche Titel bei mir am besten gehen? – Bloch, Wittgenstein, Adorno, Benjamin – in dieser Reihenfolge.“ Waren doch sonst Brecht und Hesse die meistverkauften Suhrkamp-Autoren. Angespornt vom Erfolg des ersten Jahren riskierte der Verlag 1964 die ersten beiden Bände einer Proust-Werkausgabe in der edition. Ihr folgten unter anderem Ausgaben von Brecht, Hesse, Bloch und Benjamin.

In den kommenden Jahren nahm der Anteil der Belletristik zugunsten der theoretisch-wissenschaftlichen Bücher ab. Eine Entwicklung, die auch in den anderen ambitionierten Reihen bei Rowohlt, S. Fischer oder Wagenbach zu beobachten ist – und die zunehmende Politisierung eines gut Teils der Leserschaft spiegelt. Ende der Sechzigerjahre suchten Studenten, Schüler und Gewerkschafter weniger Gedichte als theoretisches Rüstzeug für den Klassenkampf. Programmatisch verkündete Enzensberger im Mai 1968, nun Herausgeber des „Kursbuchs“ bei Suhrkamp: „Für literarische Kunstwerke lässt sich eine wesentliche Funktion in unserer Lage nicht angeben.“ Stattdessen also: Jürgen Horlemann und Peter Gängs „Vietnam. Genesis eines Konflikts“ oder Habermas’ „Technik und Wissenschaft als ‚Ideologie‘“.

Ideologisch mag das korrekt gewesen sein. Ökonomisch rechnete es sich, trotz mancher Bestseller wie Ernst Bloch, auf Dauer nicht. Unter den Bestsellern der Reihe waren schon Anfang der Siebziger kaum mehr theoretische Werke, trotz emsiger Bahnhofsbuchhandlungen und Expansion der Universitäten.

Mit dem Niedergang der linken Theorie, dem Verlust ihrer gesellschaftlichen Deutungshoheit und dem Aufstieg der ökologischen Bewegung verlor die edition suhrkamp nach und nach ihre einzigartige Bedeutung. Seit Mitte der Siebzigerjahre war sie definitiv nur mehr eine anspruchsvolle Taschenbuchreihe unter vielen. Sie repräsentierte immer weniger den intellektuellen Mainstream, sondern einzelne Strömungen, die häufig wechselten. Bisweilen konkurrierten auch zwei Strömungen im Verlag um die Gunst der Leser – so in den Achtzigern die Systemtheorie Luhmanns gegen Habermas’ Spätwerk in der Tradition der kritischen Theorie. Nebenbei erklärte Ulrich Beck noch die „Risikogesellschaft“ und machte sich auf die vergebliche Suche nach der Zweiten Moderne.

Andere Geistesströmungen wie die Wiener Schule oder die Positivisten bis hin zu Popper fanden trotz der zunehmenden Ausdifferenzierung der edition ebenso wenig Platz wie etwa Antonio Gramsci; sie passten offenbar nicht in Buschs intellektuelles Konzept. Heutzutage lässt man da eher den postmodernen Denker Slavoj Žižek seinen Lacancan und Deridada tanzen.

Eine solche Öffnung des Programms war bis 1979 undenkbar – bis zum 1.000 Band, dem letzten von Günther Busch lektorierten. Es ist im Grunde der letzte Band der edition suhrkamp, die seitdem mit dem Zusatz Neue Folge versehen wird. Der 1.000 Band trägt den Titel „Stichworte „zur geistigen Situation der Zeit“ und fokussiert noch einmal Stärken und Schwächen der edition suhrkamp (e. s.).

Das hat seinerzeit auch Herausgeber Habermas erkannt, als er im Vorwort, wenngleich ein wenig übertreibend, schrieb: „Die e. s. repräsentiert mit einer gewissen Überprägnanz einen Zug der intellektuellen Entwicklung, von dem man sagen kann, dass er im Nachkriegsdeutschland dominiert hat: Ich meine den dezidierten Anschluss an Aufklärung, Humanismus, bürgerlich radikales Denken, an die Avantgarden des 19. Jahrhunderts – die ästhetischen wie die politischen. Wenn an der Parole, der Geist stehe links, je etwas dran gewesen ist, dann während der (vergangenen) Jahre.“ Und er schließt: „Damit ist es nun vorbei.“ Das stimmte – allerdings nicht nur als Analyse des politische Klimas der Zeit, das von Terroristenhatz und Nato-Nachrüstungsbeschlüssen vergiftet wurde. Es traf auch auf die edition suhrkamp selbst zu, deren Neue Folge nie so einflussreich wie ihr Vorgänger wurde.

Die Neue Folge der edition gibt es in jeder guten Buchhandlung. Die Suhrkamp-Kultur nur noch im Museum.