: Risiko Souveränität
Wahlen würden im Irak derzeit nicht zum Frieden führen. Zuerst braucht das Land eine Verfassung, die die ethnische und religiöse Vielfältigkeit der Bevölkerung einbezieht
Die Entmachtung des Diktators Saddam Hussein durch den Irakkrieg wirkt auf viele wie eine Befreiung. Doch sie birgt auch viele Gefahren, denn es ist offensichtlich, dass die US-Regierung keine konkreten Pläne für einen Post-Saddam-Irak hatte. Wie und wer soll also nun den Irak regieren?
Unter den gegenwärtigen Bedingungen sind drei Szenarien möglich: 1. Der Irak wird, wenn der sunnitische Dschihad fortdauert, zu einem neuen Afghanistan der islamischen Dschihadisten. 2. Die Schiiten erobern nach vorzeitigem US-Abzug die Macht. 3. Der Irak wird Vorbild für eine Demokratisierung im Nahen Osten.
Für welches Szenario spricht die gegenwärtige Entwicklung?
Beim ersten, dem „Afghanistan-Szenario ist zu beachten, dass die Durchlässigkeit der irakischen Grenzen tendenziell an das Afghanistan unter sowjetischer Besatzung erinnert. Damals wie heute kommen über die Grenzen Islamisten, die zum Dschihad im Sinne eines heiligen, irregulären Krieges entschlossenen sind; sie strömen, um die „Ungläubigen“, diesmal die Amerikaner und ihre Koalitionäre, zu töten – und alle Iraker, die mit ihnen kooperieren. Eines der Opfer war der prominente Schiit Ajatollah Mohammed Bakr al-Hakim. Dieser Terrorismus erschwert sowohl den wirtschaftlichen Aufbau als auch die Demokratisierung erheblich und steht einer sunnitisch-schiitischen Versöhnung im Wege.
Das zweite Szenario baut auf der Tatsache auf, dass sich die Schiiten – im Gegensatz zu den irakischen Sunniten – auf religiöse Institutionen im Untergrund stützen können. So verfügen sie über eine Jahrhunderte alte Tradition der religiösen Arkan-Praxis (Geheimreligion) mit ungeheurem politisch-religiösem Potenzial. Sie repräsentieren somit eine institutionelle Macht. Das Konfliktpotenzial des ersten Szenarios führt zu einem neuen Afghanistan, das zweite zu einem neuen Iran: Beides ist keine Demokratisierung. Was muss getan werden, um einen demokratischen Irak zu fördern?
Jedes politische Denken für ein drittes Szenario muss die Konflikte innerhalb des Irak sowie Interessen und Einfluss der Nachbarländer zum Ausgangspunkt haben. Als sunnitischer Araber, der für die Entsaddamisierung und Demokratisierung des Irak eintritt, weiß ich, dass der derzeitige Terror bisher ausschließlich vom sunnitischen Teil der Bevölkerung ausgeht.
Die schiitische Bevölkerung ist, im Gegensatz zu den Sunniten, bisher ruhig geblieben. Das Motiv der Terroranschläge ist nicht nur die Angst der arabischen Sunniten, unter schiitische Herrschaft zu geraten, sondern auch Angst vor Vergeltung für die Leiden, die die Schiiten erfahren haben. Sie wurden schließlich nicht nur unter Saddam 1979–2003, sondern seit der Gründung des Irak unterdrückt.
Dennoch ist zu betonen, dass der Sunna/Schia-Konflikt sich nicht auf den Irak beschränkt; er geht auch die Nachbarländer an. Diese haben kein Interesse an einem schiitisch dominierten Irak, nein, sie fürchten diesen geradezu. Daraus folgt: Das Misslingen eines ethnisch-religiösen Gleichgewichts zwischen Arabern und Kurden sowie zwischen Sunna und Schia könnte die ganze nahöstliche Region destabilisieren.
Die wichtigste Voraussetzung bei der Einführung der Demokratie ist der Aufbau einer institutionellen Infrastruktur. Nur unter diesem Gesichtspunkt ist zudem ein Vergleich mit Deutschland nach 1945 zulässig. Hier wurde damals weder die verfassunggebende Versammlung gewählt noch in einem Plebiszit über die von ihr ausgearbeitete Verfassung abgestimmt. Dafür fehlten nämlich die Grundlagen; ähnlich ist die Sachlage heute im Irak. Mag Deutschland im Gegensatz zu seinen westlichen Nachbarländern sogar bis heute noch eine wenig demokratische Alltagskultur haben, so hat das Land mit seinem Grundgesetz doch eine der besten Verfassungen Europas.
Als demokratisch gesinnter Migrant definiert sich meine Beziehung zu Deutschland – neben der Sprache – über diese Verfassung. Wie damals in Deutschland wird es auch im Irak von heute nicht möglich sein, durch Wahlen eine verfassunggebende Versammlung zu bilden, die allen Bevölkerungsgruppen gerecht wird. Nur eine sowohl auf die Vielfältigkeit der Bevölkerung bezogene paritätische als auch säkulare Verfassung kann es Kurden, arabischen Schiiten und Sunniten ermöglichen, in Frieden miteinander zu leben und ihre Identität über eine solche Verfassung zu definieren.
Das bisherige Unrecht an den Schiiten kann nicht durch die eine Umkehrung der Verhältnisse behoben werden. Weder die Scharia noch die Illusion eines konstruierten islamischen Staates können Lösungen für einen neuen Irak bieten. Treffend schrieb dazu die Organisation „Women’s Freedom in Iraq“ kürzlich in einer Erklärung: „Irakische Frauen und Männer haben sich niemals vorgestellt, dass der allumfassende Baath-Faschismus überwunden wird, um diesen lediglich durch eine islamistische Diktatur zu ersetzen.“
Entscheidend ist nun, wann Wahlen und die Übertragung der Souveränität stattfinden kann. Auch dabei sollte Deutschland als Modell dienen. Bis auf Alt- und Neonazis hat sich niemand darüber beschwert, dass es fast ein halbes Jahrhundert dauerte, bis Deutschland seine Souveränität wiedererlangte. So gesehen und aufgrund der Sachlage im Irak ist es nicht nur falsch, dem Irak möglichst schnell die Souveränität wiederzugeben. Es ist schlicht unverantwortlich.
Das gilt auch für die Forderung des schiitischen Klerus, sofort Wahlen durchzuführen, ist in diese Kategorie einzuordnen. Ebenso falsch ist allerdings eine Fortsetzung der US-Besatzung. Was ist also zu tun? Richtig ist: Erst wenn der Irak über eine Verfassung und eine Demokratie verfügt, kann er wirklich souverän agieren. Ein Frieden im Irak muss Vorbildcharakter für Nahost haben und erfordert daher ein ethnisch-religiöses Gleichgewicht; dies kann durch Kompromisse und Versöhnung erfolgen. In diesem Sinne ist Südafrika zweifellos vorbildlich.
In der aktuellen Situation hat UN-Generalsekretär Kofi Annan sich verantwortlicher verhalten als der deutsche und der französische Außenminister und Experten in den Irak entsandt. Diese Experten unter Führung des Algeriers Brahami haben festgestellt, dass alle Voraussetzungen zur Durchführung von Wahlen im Irak vor dem Juni 2004 fehlen. Es ist zu hoffen, dass der Großajatollah Ali al-Sistani das UN-Urteil der Experten akzeptiert und somit mehr auf die Vereinten Nationen als auf die Vereinigten Staaten hört und keine Fatwa zur Mobilisierung der Schiiten zum Dschihad ausstellt.
In diesem Zusammenhang ist erwähnenswert, dass Paul Bremer den Beschluss der irakischen Regierungsrats, das Zivilrecht außer Kraft zu setzen und die Scharia einzuführen, nicht unterschreibt. Langfristig sollte die UNO die Transformation des Irak in eine Demokratie überwachen. Wenn die US-Truppen vor den US-Präsidentschaftswahlen abgezogen werden, wird mit Sicherheit ein Binnenkrieg zwischen ethnisch-religiösen Kollektiven als Kampf um die Macht die Folge sein. BASSAM TIBI