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Archiv-Artikel

Mili tanzt nicht mehr

Nicht militante Linksradikale lösen die Krawalle am Ersten Mai in Kreuzberg aus – es sind gelangweilte türkische Machokids

Einer ruft „Angriff“, dann geht es los auf die geparkten Polizeiautos

aus Berlin CEM SEY

1. Mai, Berlin Kreuzberg. Auf dem Heinrichplatz fragt der Berliner PDS-Politiker Udo Wolf, ob jemand aus dem Kiezfunk noch etwas gehört habe. „Nein“, bekommt er zur Antwort, „nichts ist geplant.“ Wolf lächelt und glaubt, nichts übersehen zu haben. Es ist Abends, so gegen halb sieben, alle Demonstrationen und Feste verlaufen friedlich. Der Tag scheint überstanden.

Glaubt der Politiker. Nicht einmal fünf Minuten vergehen, und eine Gruppe von türkischen Jugendlichen zieht über den überfüllten Platz. Einer ruft den anderen auf Türkisch zu: „Wir sammeln uns!“ Kurze Zeit später kommen rund 150 Jugendliche zusammen. Eine Gruppe, die offenbar aus mehreren kleineren unabhängigen Gruppen besteht. Manche kennen sich nicht. Unter ihnen sind ein Dutzend kleiner Jungs, nicht älter als zwölf Jahre. Aber den überwiegenden Teil der Gruppe machen 15- bis 16-jährige Teenager aus. Noch sind sie nicht vermummt.

Sie gehen strammen Schrittes zum Kottbusser Tor. Bewegen sich zwar in der Masse, die das schöne Wetter und die dargebotene Musik auf zahlreichen Bühnen genießt, ihre Körperhaltung spricht allerdings eine andere Sprache: „Wir gehören nicht zu euch!“

Zunächst zanken sie sich mit arabischen Jugendlichen. Nach einigen Handgreiflichkeiten trennen sich die Kampfhähne. Das Gerücht von einer Schlägerei zwischen den beiden Gruppen am früheren Nachmittag macht die Runde. Ein dicker türkischer Junge – Bartflaum im Gesicht – sinnt auf Rache und sucht nach Arabern: „Wenn wir bloß einen von denen kriegen könnten!“ Die anderen laufen weiter.

Während sie scheinbar ziellos durch den Kreuzberger Kiez ziehen, pöbeln sie Umstehende an. Bevorzugte Opfer sind punkig aussehende Deutsche. Ein angetrunkener Kreuzberger traut sich Widerworte. Sofort wird auf ihn eingedroschen. Seine Freundin, die ihn aus der Menge herauszuziehen versucht, wird als „Hure“ beschimpft und bekommt einen gezielten Faustschlag ins Gesicht.

Um die Ecke muss ein anderer junger Mann als Sandsack für Taekwando-Tritte herhalten. Von ihm lassen sie erst ab, als sie merken, dass er kein Deutscher ist. Der wahrscheinlich aus Exjugoslawien stammende Punker, der die randalierenden Jugendlichen auch in den folgenden Minuten versucht, an ihren Rempeleien zu hindern, gehört später zu den ersten Festgenommenen. Ein überheblicher Polizist wirft ihm vor, die Beamten mit „Klamotten“ beworfen zu haben.

Eine dreiviertel Stunde ist vergangen, seitdem die Halbstarken „Action“ suchen. Weit und breit ist kein Polizeibeamter zu sehen.

Ein Lieferwagen muss als Zielscheibe herhalten. Steine fliegen. Die Scheiben des Wagen gehen zu Bruch. Als der Fahrer um sein Leben bangt und mit Vollgas flüchtet, bricht Siegesgeschrei aus.

Ermutigt von ihrem Sieg ziehen die Kids unter den teilnahmslosen Blicken älterer türkischer Männer weiter. Dorthin, wo die Polizei ist. Zunächst wird Munition besorgt. Innerhalb von Sekunden sind hunderte von Pflastersteinen aus den Bürgersteigen herausgestemmt, sie landen in den Taschen der Cargo-Hosen.

Plötzlich schreit einer „Hücum!“, „Angriff!“. Dutzende Jugendliche rennen auf die in der Seitenstraße geparkten Polizeiautos. „Allah, Allah!“, schreien sie, wie die osmanischen Janitscharen vor den Toren Wiens. Dieser Kampfschrei wird auch von den „Grauen Wölfen“ benutzt, den in Deutschland verbotenen türkischen Faschisten.

Die ahnungslosen niedersächsischen Polizisten sind völlig überrascht. Sie klettern erst aus ihren Einsatzwagen, als die randalierende Horde schon längst verschwunden ist. Sichtlich verwirrt setzen sie ihre Helme auf und versuchen sich schnell zu formieren. Dann kommt der Einsatzbefehl. Sie rennen zu der Kreuzung, zu der auch die Jugendlichen gelaufen sind. Zu spät. Dort ist keiner zu fassen.

Die siegestrunkenen Kids sind längst wieder da, wo sie hergekommen waren. Ein parkendes Auto wird umgekippt. Jetzt sind einige vermummt, denn Kameras der Fernsehsender laufen. Wer kein Palästinensertuch und keine Hasskappe besitzt, zieht den Pullover hoch.

Zuerst zanken sie sich mit Arabern, dann pöbeln sie gegen deutsche Punks

Sie bearbeiten das Auto. Es wird getreten. Ein Versuch, den Wagen in Brand zu setzen, scheitert. Um die Kameraden zu beeindrucken und um ins Fernsehen zu kommen, steigen immer wieder einzelne türkische Jugendliche auf das Auto, formen ihre Finger zum Siegeszeichen. Einzelne Passanten, die den Mut haben sich einzumischen, werden handgreiflich angemacht. Eine junge Mutter in Panik zieht ihre kleine Tochter an der Hand und versucht durch die Menge zu kommen: „Bitte, lasst mich doch durch!“

Der Junge, der die Araber „aufmischen“ wollte, sagt, sie hätten „Langeweile“. Den türkischen Sänger Haluk Levent, der extra aus der Türkei eingeflogen wurde, um eben diese Jugendlichen mit einem Konzert von den traditionellen Krawallen fernzuhalten – den kennt er nicht. Er steht jetzt auf einer niedrigen Mauer am Straßenrand und kommentiert das Geschehen: „Wer ist so blöd und parkt sein Auto hier. Natürlich wird es brennen.“ Dann zeigt er auf die anderen wenigen Autos in der Straße und prophezeit, dass auch diese bald in Flammen aufgehen werden. Tatsächlich brennen einige Minuten später alle Wagen.

Die Krawalle dauern schon eine Stunde, ohne dass die gefürchteten „linken Chaoten“ in Erscheinung getreten sind. Erst zu diesem Zeitpunkt kommen vereinzelt vermummte deutsche Steinewerfer hinzu. Bald werden es mehr. Nun weht vorne eine riesige Mao-Fahne. Der Fahnenträger möchte unbedingt auf den Bildschirmen gesehen werden. 20 Sekunden Berühmtheit.

Die türkischen Kids dagegen haben genug. Mit dem 1. Mai und der Politik haben sie nichts am Hut. Sie ziehen sich zurück. Der traditionelle Berliner 1. Mai nimmt seinen Lauf. Der angezettelte Straßenkampf geht noch Stunden weiter.

Das Konzert von Haluk Levent wird abgesagt. Er geht mit Funktionären von türkischen Organisationen und deren Ehefrauen essen. Seine Unterstützung wird nicht mehr gebraucht.