„Abends hat der Tiger Hunger“

André Sarrasani

„Der stärkste Mann, die dickste Frau … Die Aufgaben des Zirkus übernimmt das TV“ „Pferde, Elefanten, Clowns – die Kids von heute wollen das gar nicht mehr sehen“

Mit 30 ist er Deutschlands jüngster Zirkusdirektor und Chef des gegenwärtig 85 Mitglieder zählenden Ensembles. Sarrasani, in der Branche heute längst eine Marke, war einst der größte „Circus“ der Welt und bereiste mit 200 Wagen, 600 Artisten und 600 Tieren Europa, Russland und Südamerika. In Dresden eröffnete Sarrasani vor dem Ersten Weltkrieg das größte feste Chapiteau aller Zeiten. André Sarrasani, fünfte Generation, übernahm mit 20 die technische Leitung des Familienbetriebs. Eine Zeit, in der es um die gesamte Branche bereits schlecht stand. Mit neuen Ideen will der Manegenboss weg vom Sägemehlimage und hin zum urbanen Entertainment – bis 18. Mai steht sein Zelt am Potsdamer Platz

Interview PHILIPP GESSLER
und ADRIENNE WOLTERSDORF

taz: Herr Zirkusdirektor, wenn früher der Zirkus in die Stadt kam, hieß es immer: Leute, nehmt die Wäsche von der Leine! Das ist wohl Legende, heute residieren Sie am Potsdamer Platz.

André Sarrasani: Von wegen Legende, aber hallo!

Wie? Beäugt man Sie immer noch misstrauisch als fahrendes Volk?

Ich gehe zum Beispiel in ein Werkzeuggeschäft Schrauben kaufen. Dann wird die Rechnungsadresse aufgeschrieben. Ich sage: Sarrasani – Ah, Sie sind vom Zirkus, Sie zahlen aber bar, oder? Das ist kein Witz. Und das ist noch nett.

Kommt das schwierige Image des heutigen Zirkus durch die Berichte von entführten Elefanten und anderen Verzweiflungstaten Ihrer Zunft?

Klar, wenn ich mir allein die letzten drei Monate Negativpresse angucke, die die Zirkuswelt selbst zu verantworten hat. Es gab diesen entführten Elefanten. Kreuz und quer durch Deutschland gejagt. Jetzt ist von einem Zirkus der Juniorchef mit der Dompteuse und der ganzen Löwengruppe durchgebrannt. Oder ein anderer, denen läuft in jeder Stadt ein Tier davon, in der Hoffnung, dadurch Publicity zu bekommen. Drei Bad Storys, die bundesweit liefen.

Tiergeschichten interessieren die Menschen immer.

Das wird natürlich an den Tieren aufgezogen …

Sie meinen, latent steckt aber ein Vorwurf dahinter: Ihr seid nicht so wie wir. Sesshaft und damit gut?

Ja, so nach dem Motto: Guck mal, die Zirkusleute wieder!

Ist es nicht ein Beweis des Gegenteils, dass sich zwei sehr prominente Gebäude in Berlin – das Sony Center und das Tempodrom – mit Zirkusdächern schmücken?

Natürlich, da gibt es auch viele positive Assoziationen. Die glitzernde Welt, Reisen, andere Völker, andere Menschen kennen lernen, die Prinzessin auf dem Hochseil mit ihrem Krönchen, der Zirkusdirektor. Andererseits zeigt ja schon unsere Sprache, wie wir gesehen werden. Mach nicht so einen Zirkus!, schimpft die Mutter. Den Leuten fällt das gar nicht mehr auf.

Und Ihre Mission ist es jetzt, uns den Zirkus neu denken zu lernen?

Ja, wir haben neue Wege gefunden, den Zirkus in die Zukunft zu führen. Früher hatte ein Zirkus die Aufgabe, fremde Tiere und Menschen zu präsentieren, die dickste Frau, den stärksten Mann und so. Diese Aufgabe hat heute das Fernsehen übernommen. Die meisten Erwachsenen denken bei Zirkus immer noch an Sägemehl, Pferde, Elefanten, Raubtiere und Clowns. Genau das wollen viele, vor allem Kids, gar nicht mehr sehen. Die werden heute mit Internet und MTV bombardiert.

Müssen Sie also zum technoiden Interaktiv-Zirkus mutieren?

Die Aufgabe des Zirkus ist heute die eines Entertainmentunternehmens im Bereich Comedy. Das Publikum will unterhalten werden und lachen können. Das Tolle ist doch, dass hier Menschen für Menschen etwas Schönes, Heiteres machen. Live. Und diese Menschen haben Persönlichkeit, ein wichtiger Faktor, auch in Zukunft.

Klassischer Zirkus hat ausgedient?

Die letzten 15 Jahre hat sich die Zirkuslandschaft kaum bewegt. Kaum jemand hat sich Gedanken über diese Veränderungen gemacht, über neue Programmstrukturen, das Marketing, unser Auftreten in der Öffentlichkeit. Das Drumherum fordert das aber.

Würden Sie manchmal lieber in einem klimatisierten Büro arbeiten, um 17 Uhr Feierabend, Reihenhaus und so?

Es regnet und stürmt, du musst aufbauen, dir läuft das Wasser zum Nacken rein bis in die Gummistiefel, das Geschäft läuft nicht … Es gibt Momente, wo ich die Nase voll habe. Dann fahre ich zu meinen 14 Monate alten Patenkindern, zu meinem besten Freund, bleibe einen Tag, und dann geht es mir wieder gut, und ich kann wieder reingehen.

Reingehen, rausgehen. Drinnen, das ist die Zirkuswelt. Und draußen?

Die normale Welt. Ich kann in beiden ganz gut leben. Im Zirkus gibt es tatsächlich noch dieses Familiäre. Trotz allen Wandels ist das Gefühl geblieben, etwas über fünf, sechs Monate gemeinsam zu tun, das enge Zusammenleben von neun oder zehn verschiedenen Nationalitäten – das ist doch fantastisch. Alle reden jetzt davon – wir leben das vereinte Europa doch schon, seit es Zirkus gibt.

Sie sind Vorreiter der Globalisierung?

Absolut.

Kam deswegen vor einhundert Jahren ein Dresdner Zirkus zu einem italienisch klingenden Namen?

Wir sind eine ganz deutsche Familie. Der Gründer, mein Ururgroßvater, hieß Hans von Stosch. Das klang Ende des 19. Jahrhunderts nicht nach Künstler. Die Legende sagt, dass ihm sein Künstlername Sarrasani im Traum in einer Fackelschrift am Horizont erschien.

Entschuldigung, aber ein Adliger ging damals doch nicht zum Zirkus?

Richtig. Der Vater war Glashüttenbesitzer bei Radebeul. Hans von Stosch ist aber von zu Hause abgehauen, war Kutscher, dann Artist und gründete schließlich den Zirkus. Ein Punk sozusagen.

Sie sind jetzt der fünfte Sarrasani. Garantiert standen Sie schon auf der Bühne, bevor sie laufen konnten.

Mit fünf hab ich zum ersten Mal in Frack und Zylinder dem Publikum Guten Abend gesagt, das war die Geburtstagsüberraschung für meinen Vater. Mit sechs habe ich dann Shetlandponys vorgeführt, das war meine erste Nummer. Die Ponys sind dann leider komplett verbrannt, durch Brandstiftung in unserem Winterquartier. Mein Vater kaufte mir dafür ein Pferd, und ich ritt Dressur in der Manege. Nach der Schule, mit 18, war die Manege für mich nicht mehr angesagt. Ich war im technischen Bereich tätig, Auf- und Abbau, Zeltkonstruktion, Beleuchtung. Ich hab auch das Zelt, das hier steht, entworfen. Außerdem Transport, Organisation, Werbung. Auf die Bühne bin ich selbst erst sehr spät wieder gekommen.

Wurden Sie etwa noch mal entdeckt?

Zum 60. meiner Mutter habe ich Illusionen vorgeführt. Wir feiern zu solchen Anlässen nämlich immer Partys, wo jeder mal was macht, was er sonst nicht tut. Ein Freund der Familie, der selbst die größte Illusionsschau in Europa macht, war da und sagte mir hinterher, ich hätte das Zeug dazu. Seit 1994 stehe ich also wieder selbst auf der Bühne, mit Großillusionen, Ballett, Raubtieren.

Wo lernt man denn Großillusionen?

Ich bin nach meiner Quasientdeckung für drei Monate in die USA geflogen und hab mir dort alles angeguckt, was es im Showbiz so gibt. Von Siegfried & Roy über Konzerte bis Copperfield. Die Amis sind einfach Marktführer, egal was man sonst über sie denken mag. Ich konnte dort unwahrscheinlich viel lernen.

Lässt sich das denn hier anwenden?

Natürlich muss da was angepasst werden. Die Amis gehen in eine Show, links das Popcorn, rechts das Coke, und lassen sich berieseln und wollen Fun haben. Dafür geben sie gerne Geld aus. Die Deutschen wollen wissen, wo sie hingehen, was sie erwartet und was es kostet. Bei uns ist dieser Funfaktor nicht so ausgeprägt. Wir sind da eher prüde. Wenn ich, wie die US-Showmaster, auf die Bühne gehen würde und sagte: Hey folks, how your’re doin? – Hey, Leute, wie geht’s?, würde mich ein deutsches Publikum doch für plemplem halten. Die wollen was sehen für ihre 20 Euro.

Das heißt, hier zählt Leistung?

Ja, das deutsche Publikum ist aber dankbarer. Leistung wird mehr honoriert. Mich würde es dennoch sehr reizen, mal ein halbes Jahr in den USA auf der Bühne zu stehen.

Wie ist denn das Berliner Publikum?

Total unterschiedlich, unwahrscheinlich verwöhnt. Ich bin aber ganz happy, wir kommen in Berlin gut an.

Um gut anzukommen, muss man auch Klischees bedienen. Der Clown, die Tigershow und der Trommelwirbel vor dem Salto mortale. Wie viel Platz gibt es da für Innovationen?

Ich bin kein kulturelles Theater, das Millionen zu verblasen hat, sondern ein Wirtschaftsunternehmen.

Das heißt, Sie setzen auf die sichere Karte?

Das tue ich nicht. Wenn ich auf die sichere Karte setzen würde, dann säßen hinten dreißig Pferde und fünf Elefanten, dann läge Sägemehl in der Manege und nicht blauer Teppichboden. Das wäre sicherer Standard. Bestimmte Dinge muss man einhalten, um erfolgreich zu sein. Besonders in der heutigen Zeit muss ich aber sehen, dass mein Unternehmen wirtschaftlich erfolgreich ist und bleibt, erst dann kann ich mir experimentelle Shows leisten. Schließlich ist bei uns nicht, wie in den Opern und Theatern, jeder Sitzplatz mit 100 und mehr Euro subventioniert.

Sie waren das letzte Mal 1994 in Berlin. Ist der Potsdamer Platz eine Top-Location, wie es werbemäßig heißt?

Ja, zentrale Lage, gesehen werden. Nach Tegel wären wir nicht gegangen. Wir wollen stets ein Teil der Stadt sein. Die nächste Sarrasani-Generation wird hier nicht mehr auftreten können, dann ist alles zugebaut.

Wie erleben Sie eigentlich eine Stadt? Sie haben ja nur morgens und nachts Zeit, sich was anzugucken?

Ich habe eigentlich schon zu viel gesehen. Klar guckt man sich immer wieder was an, wir haben ja auch freie Tage. Ich weiß immer, wo’s was Gutes zu essen gibt und wo der nächste Baumarkt ist.

Wollten Sie nicht mal raus aus diesem Rhythmus von Ankommen und Abreisen?

War ich doch. Sechseinhalb Jahre lang im Internat im Odenwald. Ich hab da meinen Realschulabschluss und eine Schlosserlehre gemacht. Da habe ich viel kennen gelernt. Theater, Schulfeuerwehr, Sport. Alles Dinge, die man im Zirkus nicht tut. Dadurch habe ich auch Freundschaften geschlossen, die heute noch bestehen und die mich immer wieder ins normale Leben zurückholen.

Hatten Sie eine Wahl, oder mussten Sie den Familienbetrieb übernehmen?

Meine Eltern haben mir immer gesagt: Du musst nicht zum Zirkus kommen. Du musst aber die Schule fertig machen und einen Beruf erlernen. Das waren die beiden Muss. Das Internat war perfekt gewählt, weil ich dort gleichzeitig die Schule und eine Gesellenprüfung als Schlosser abschließen konnte. Ich habe also keine Zeit verloren.

Zum Schluss noch die zentrale Frage: Ist der Tiger satt, bevor er in die Manege kommt?

Quatsch. Das denken alle. Wir füttern morgens. Abends hat der Tiger vermutlich schon wieder Hunger. Gefährlich ist er aber nur, wenn er glaubt, sich verteidigen zu müssen. Das lässt sich ja nicht durch Futter oder Gitter manipulieren.

Was sagt denn der deutsche Gesetzgeber über die Tigernummer?

Psst, es gibt noch Gesetzeslücken.