: Skandal in der Hygienezelle
Ein Beinbruch ist kein Beinbruch – solange man noch aufstehen und munter aufs Klo humpeln kann
Als die meisten Jungen in meinem Alter von einem Auto überfuhren wurden, war ich einer der Ersten. Zwei oder drei hatten es schon vorher geschafft, mit Beinbrüchen für Aufsehen an der Schule zu sorgen, aber ich hatte etwas Besonderes: einen Lastwagen. Der stand links neben mir an der Kreuzung, die ich überqueren wollte, weil ich zu Weihnachten ein nagelneues Klapprad bekommen hatte, das ich nun zum ersten Mal richtig ausfuhr. Es war ein Rad mit kleinen Rädern und einer großen weißen Schraube über dem Pedalkasten. Wenn man die Schraube aufdrehte, zerfiel das Rad in zwei Teile, was manchmal während der Fahrt geschah. Dann hielt man sich verzweifelt am Lenker fest, das Gesicht in Höhe der Lampe, und spürte, wie die Knie über den Asphalt schleiften, bis schließlich der vordere Radteil umkippte und man ein Stück Reifen oder Schutzblech ins Gesicht bekam. Die Schraube diente dazu, das Rad zu zerlegen, damit es in den Kofferraum passte. Wir hatten aber gar keinen Kofferraum.
Wenn mein Vater die Schraube zudrehte, ging sie nicht mehr auf, doch mein Vater war nicht oft da. An diesem Tag hielt die Schraube, aber als die Ampel auf grün schaltete und ich losfuhr, fuhr der Lastwagen mit Anhänger auch los, um nach rechts abzubiegen. Dann wurde ich ins Krankenhaus gefahren, wo man mir Jod aufs Knie schmierte, mich in einen Gang schob und vergaß.
Ein Arzt kam später vorbei und wollte wissen, was ich da mache, aber das wusste ich nicht. Er nahm mich mit und fragte in alle möglichen Glastüren hinein, bis man mich schließlich auf die Kinderstation für Knochenbrüche brachte. Dort war aber kein Platz mehr. Ich bekam fürchterliche Angst, wollte unbedingt in die Station, aber man schob mich in die andere Kinderstation, wo „die Organe“ waren.
Die Kinder in dieser Station erwiesen sich als viel interessanter als die banalen Knochenbrüche im anderen Stockwerk. Sie bekamen riesige Spritzen in den Rücken, hatten „Nieren“ oder „falsches Blut“. Ein Junge war zur Untersuchung da, wie er sagte. Ich erblasste vor Neid, weil der Junge sich nur zum Untersuchen tagelang in ein Bett legen durfte. Zu allem Überfluss hieß er Theodor Zacharias, was ungemein wichtig klang. Es gab sogar ein Lied darüber, das eine Krankenschwester jeden Morgen sang, mit einem Fußballtor.
Ich war in der ganzen Station der Einzige, der nicht aufstehen durfte. Mein rechtes Bein war mit Verbänden an eine geknickte Schiene gebunden, obwohl man mir sagte, ich hätte nichts gebrochen, sondern nur eine Prellung. Jeden Morgen wechselte die Schwester den Verband, nachdem sie bei den anderen Kindern Fieber gemessen hatte. Dann kam Jod auf die Wunde, die Ärzte sahen sich das Knie an und gingen zum nächsten Bett. Die Schwester hatte eine besondere Art, den Verband zu binden: das Heldenmuster. Das ging zweimal rechts vor, einmal links vor, einmal rechts zurück und umgekehrt. Sie zeigte mir stolz, wie das Muster gemacht wurde, und ich merkte es mir.
Als abends die Lichter ausgeschaltet wurden und die Schwestern gingen, stiegen die Kinder aus den Betten und tobten durch die Station. Staunend sahen sie mich plötzlich auch im Gang stehen. Der Junge mit dem falschen Blut zeigte mir seine Freundin, ein dünnes, blasses Mädchen, das im Krankenhaus war, weil es immer in Ohnmacht fiel. Alle trugen Schlafanzüge und Nachthemden und liefen kichernd durch die Station, verschwanden in einem Zimmer und kamen lachend wieder raus. Ich aber hatte das Bett nicht verlassen, um bei den anderen Kindern zu sein, sondern weil ich ganz dringend aufs Klo musste.
Da ich nicht aus dem Bett durfte, hatte man mir eine flache Flasche und einen Blechtopf ins Nachtkästchen gestellt, aber ich konnte die Flasche nur selten und den Topf gar nicht benützen. Manchmal, wenn das Bett nass war, erklärte ich den Ärzten, ich hätte aus Versehen Tee verschüttet, was sie widerwillig akzeptierten.
Jeden Morgen lief die Schwester von Zimmer zu Zimmer und wollte wissen, ob man groß oder klein gewesen sei, und ich wurde mit der Zeit verdächtig. Meine Mutter kam und brachte mir getrocknete Zwetschgen. Die hatte es bei uns noch nie gegeben. Tatsächlich hatte ich in der Nacht danach besonders schwer mit den Vorgängen in meinem Unterbauch zu kämpfen, weshalb ich beschloss, mein Wissen über das Heldenmuster zu nutzen.
Es gab zwei Türen, die nicht aus Glas waren; eine davon war das Klo. Ich fand es etwas seltsam, auch das Klopapier, das nicht auf Rollen war, sondern aussah wie große Tempotaschentücher. Aber ich war zu froh, dass sich meine Bedrängung löste, um darüber nachzudenken. Als ich wieder im Bett lag und das Heldenmuster erneuert hatte, schlief ich die friedlichste und schönste meiner sieben oder acht Krankenhausnächte.
„Welches Schwein hat die Sauerei in der Hygienezelle angerichtet!“, wurde am nächsten Tag durch die ganze Station gebrüllt. Es war schrecklich, aber es ging bald vorbei, und ich kam sowieso nicht in Betracht, weil ich nicht aufstehen konnte. Die tägliche Frage nach groß und klein machte mir danach allerdings eher noch mehr Sorgen, weil mich die Schwestern immer seltsamer ansahen. MICHAEL SAILER