: Nach dem Kannibalismus
Jung und wild wollten die so genannten cannibali-Autoren in Italien sein, und Aldo Nove war einer von ihnen. Nun gibt es die Bewegung nicht mehr, aber Nove ist immer noch gewaltig: gewaltig zart. Sein neuer Roman „Amore mio infinito“ ist ein Buch über den langsamen Abschied von der Kindheit
von SUSE VETTERLEIN
Milde sind sie. Nicht müde, nur milde. So richtig waghalsig gibt man sich nicht mehr in der italienischen Belletristik. Stattdessen muss man zuerst einmal feststellen, dass es in Italien wieder einen verstärkten Boom des ohnehin boomenden Krimis gibt (zumindest belegen das die Verkaufszahlen). Giorgio Faletti, Massimo Carlotto oder Carlo Lucarelli wären hier beispielsweise zu nennen. Dabei handelt es sich nicht unbedingt um Fastfood-Krimis für den Kurzurlaub, sondern das Krimigenre wird oft dazu benutzt, sich über gesellschaftliche Sitten und Unsitten, Genua, Ground Zero oder auch Gentechnik zu äußern.
Deswegen haben wir es noch lange nicht mit einer neuen, politisch ambitionierten Literatur zu tun. Es ist kein neues Zeitalter der Ernsthaftigkeit angebrochen. Umso interessanter, mal zu sehen, was aus den ehemaligen Vertretern der Wellen schlagenden Letteratura Pulp geworden ist – auch bekannt als cannibali. Mitte bis Ende der Neunzigerjahre tobten cannibali-Autoren wie Aldo Nove, Tiziano Scarpa, Niccolò Ammaniti, Matteo Galiazzo und Verbündete donnernd durch ihr Land. Damals waren die jungen, jüngeren und mitteljungen Autoren endlich wieder wild geworden. Blut, Sperma und Kotze waren zwingende Ingredienzen.
Die Werke aus dieser Zeit wurden übrigens nicht (zumindest nicht ins Deutsche) übersetzt. Sehr wohl aber Bücher der Post-cannibali-Phase wie etwa Ammanitis „Fort von hier“ oder „Die Herren des Hügels“. Und diese sind dann auch sehr viel leiser. Und literarischer. Weniger Grenzübertretungen, mehr stringent erzählte Story; weniger postpostmoderne Extravaganzen, mehr sprachlich-stilistische Milde als Mitte der Neunziger. Damals war Aldo Nove allen voran mit seinem Erzählband „Woobinda“ ein Meister des herrlich instrumentalisierten Slangs, ein Meister dieser medial verseuchten, Werbespot durchtränkten Supermarktsprache.
Und er ist es immer noch. Auch als Exkannibale ist Nove gewaltig. Und zwar gewaltig zart, wie sein Roman „Amore mio infinito“ zeigt. Es ist ein Buch über den langsamen Abschied von der Kindheit, über den Tod, über das Lebensgefühl der Siebziger bis Neunziger. Und natürlich ist es ein Buch über die Liebe. Während in „Woobinda“ notgeile, völlig entartete Prolls noch lustvollem Sex mit dem Handy, Scheiblettenkäse, der Katze oder wahlweise auch mit dem schlafenden Vater frönten, hat man es hier mit einer sehr anrührenden, nie pathetisch oder kitschig daherkommenden Liebesfähigkeit des Ich-Erzählers Matteo zu tun.
„Über mein Leben habe ich vier Sachen zu sagen“, verkündet er, und erzählt dann von seinem Leben als Zehn-, Dreizehn-, Fünfzehn und Siebenundzwanzigjähriger. Immer geht es um Mädchen: Da gibt es dann beispielsweise ein Telefongespräch mit Silvia mit dem „Orangenlachen“, in dem Matteo vor lauter Aufregung einen Endlosmonolog über Nutella-Planeten und Smarties hält. Oder er äußert sich zur Liebe der Erwachsenen. Erwachsene seien schlecht gewordene Kinder, und: „Alles, was es im Supermarkt zu kaufen gibt, hat ein Verfallsdatum. Genau wie die Liebe. Die Liebe der Erwachsenen stinkt zum Himmel.“ Oder er äußert sich zu ganz persönlichen Mythen wie Calippo, Happy Days, McDonald’s oder Triumph-BHs (weswegen wir es noch lange nicht mit einer italienischen Variante der Generation Golf zu tun haben). Oder zu Politik: „Die Kommunisten aßen Pizza mit den Fingern und benutzten unanständige Wörter und gingen sonntags nicht in die Messe und hörten amerikanische Musik, wie Filippos Vater. Die Christdemokraten aßen Pizza mit Besteck und sagten höchstens mal heiliger Strohsack.“
Der Übersetzer Steve J. Klimchak hat den Ton der verschiedenen Erzählperspektiven gut getroffen. In der Tat ist der fremde Blick auf die Erwachsenenwelt in den einzelnen Lebensabschnitten von Matteo jeweils sehr unterschiedlich. Im letzten Kapitel herrscht ein düsterer Ton, wenn sich der Protagonist nach Studienabschluss über die Sehnsucht nach der Rückkehr in den Mutterleib, über Uterusvenen oder Geißeltierchen auslässt. „Mein Leben mit fast achtundzwanzig Jahren hat keine Erklärung, nicht einmal eine Bedienungsanleitung mit Bildern und Kauderwelsch, alles nur eine Stilübung der Natur, wie die Verbreitung der Onychophoren.“
Aldo Nove: „Amore mio infinito“. Aus dem Italienischen von Steve J. Klimchak. Rowohlt PB, Reinbek bei Hamburg 2003, 176 S., 12 €