: Die Schwäche der Starken
Mit dem Band „Jahrtausendwende“ liegt nun Manuel Castells’ große Trilogie „Das Informationszeitalter“ vollständig vor. Hegemoniale Herrschaftsgesten, wie von US-Präsident George W. Bush, lassen sich mit Castells als Panikreaktionen einer überlebten Sorte Macht deuten
von ROBERT MISIK
Die weltweite globalisierungskritische Bewegung hat im Anti-Kriegsprotest und im Anrennen gegen das neoimperiale Hegemoniestreben der USA ihre neue Bestimmung gefunden. Um den tieferen Zusammenhang der beiden auf den ersten Blick gegenläufigen Tendenzen zu verstehen, muss man den neuen, informationellen, alle Schranken niederreißenden Kapitalismus ebenso betrachten wie die nationalen Machtstrategien.
Was, wenn sich im imperialen Machtrausch, in den Gesten der militärischen (aber auch: ökonomischen und technologischen) Konkurrenzlosigkeit nicht die Stärke, sondern die Schwäche der Starken erweist? Was, wenn Macht martialisch demonstriert werden muss, gerade weil diese traditionelle Sorte Macht für die Realisierung jener Interessen, denen sie dienen soll, immer ineffektiver wird? Es sind diese Fragen, die einem in den Sinn kommen, versucht man die aktuellen Fährnisse aus der Perspektive Manuel Castells’ zu verstehen, dessen große Trilogie „Das Informationszeitalter“ nun auf deutsch vollständig vorliegt.
Der dritte Band „Die Jahrtausendwende“ beschließt ein ambitioniertes, 1.500 Seiten umfasssende Projekt, unsere Welt zu verstehen. Sein Autor, der spanischstämmige Berkeley-Professor Castells, ist schon nach dem Erscheinen der englischsprachigen Ausgabe 1999 als Großtheoretiker des Informationszeitalters, ja als neuer Max Weber gefeiert worden. Für die deutsche Ausgabe gebührt dem Verlag Leske + Budrich Anerkennung, auch wenn Übersetzung und Lektorat streckenweise katastrophal sind.
Empirisch satt und theoretisch avanciert beschreibt Castells, wie sich traditionelle hierarchische Organisationsformen in ein Netzwerk von Netzwerken auflösen – „die neue soziale Morphologie unserer Gesellschaft“ –, und wie die informationstechnologische Revolution Technologie als solche revolutioniert. Sie besteht nicht mehr bloß aus Maschinen, sondern aus dem auf sich selbst bezogenen Wissen, aus Erfahrung, aus Fertigkeit zu innovativer Anwendung. Castells zeigt zudem, wie sich die Geografie unseres Globus in einen Raum der Ströme restrukturiert, der mit klassischen Begriffen wie Kontinent, Staat oder Hauptstadt kaum mehr gewinnbringend beschreibbar ist, und wie dies die globale Kultur und die Produktionsprozesse und Kapitalformen verändert. Castells skizziert schließlich, wie Rebellionen an den Rändern motiviert werden, und wie schwarze Löcher der Exklusion aufreißen, diese gewaltige gesellschaftliche Tendenz sich auf ambivalente Weise durchsetzt, mitunter mit Hilfe von Kräften, die bisweilen gegeneinander wirken.
Macht abstrahiert sich in „ein Gewebe von Computern“, befindet sich „in den Informationscodes und in den bildlichen Repräsentanten“, die „Orte dieser Macht sind die Köpfe der Menschen“, formuliert Castells. Das Maschenwerk aus Souveränitäten und Teilsouveränitäten schließt die Existenz einer „hegimonialen Supermacht“ aus. Auch die USA sind nur noch „ein Schlüsselknoten in einem komplexen Netzwerk“.
Wie passt das zusammen mit dem, was wir dieser Tage erleben, mit der Rede vom amerikanischen „Imperium“, mit der Macht, die auf so sichtbare Weise aus den Gewehrläufen kommt, und mit der antihegemonialen Revolte von Nationalstaaten wie Frankreich und Deutschland? Castells’ „große Erzählung“ steht und fällt damit, ob es ihr gelingt, auf diese Herausforderung, die der Autor natürlich nicht voraussehen konnte, eine befriedigende Antwort zu geben.
Staatsstrategien sind, um mit Castells zu sprechen, unter den Bedingungen des informationellen Globalismus Strategien der Schwäche, Reaktionen aus einer Position der Bedrängnis. Sie sind besonders dann, wenn es sich um erfolgreiche Strategien handelt, sowohl offensive Ausdrucksform wie defensive Reaktion auf die Herausforderung. Der Netzwerkstaat der Europäischen Union, ein Staat mit Machtknoten, aber ohne Zentrum, ist für Castells die ambitionierteste und fortgeschrittenste Gestalt innerhalb dieses Paradigmas. Der ostasiatische Entwicklungsstaat von Singapur bis China ist eine ebenso angemessene Ausprägung, freilich unter anderen Bedingungen.
Das gegenwärtige Agieren der Bush-Regierung erscheint aus solcher Perspektive wie eine phantomhafte Wiederkehr alter Machtstrategie, die so hohl ist, dass ihre Akteure umso demonstrativer die Gesten ihrer Souveränität setzen müssen, als hätten sie sich selbst erst von ihrer Macht zu überzeugen. Es ist ein Abgesang auf die alte Machtsorte, der sich für seine Inszenierung gerade das Phantom eines Diktators des 20. Jahrhunderts imaginieren musste, gegen den man noch auf traditionelle Weise Krieg führen kann, der über eine richtige Armee, einen richtigen Unterdrückungsapparat, einen richtigen Staat verfügt. Insofern ist der Krieg gegen Saddam Hussein tatsächlich eine Selbstvergewisserung, weil er nicht ein so verstörender Kampf gegen eine solch irritierende Gefahr ist, wie al-Qaida, die globale organisierte Kriminalität, die Proliferation oder ähnliches, sondern ein Gegner, an dem man seine Stärke beweisen kann – sich und anderen.
Die hegemonialen Gesten sind, so gesehen, Panikreaktionen einer überlebten Organisationsform, die versucht, noch einmal ihre großen Tage nachzuspielen. Insofern ist in dieser Farce, die zugleich eine Tragödie ist, die Rolle des Imperatordarstellers geradezu brilliant besetzt mit George W. Bush, der auf eindringliche Weise ein Nichts ist, das gerne Alles wäre.
Manuel Castells: „Das Informationszeitalter“, aus dem Amerik. von Reinhart Kößler, ca. 1.500 S., Leske + Budrich, Opladen 2002/2003, je 34,90 €