Eine Schule wird begnadigt

In Brandenburg müssen Gymnasien schließen, weil es nicht mehr genug Schüler gibt. Eltern, Lehrer und Schüler der Ferdinand-Runge-Schule haben sich gewehrt. Und gewonnen. Ein einmaliger Fall

„Eine Erholung war das“, sagt der Schulleiter, als er am Tag danach aus dem Unterricht kommt

VON ANNA LEHMANN

„Wie zur Beerdigung sind wir gegangen“, erzählt Carola Neumann. Die Lehrerin für Kunst und Deutsch lächelt gelöst. Sie haben gesiegt. Wochenlang haben die 588 Schüler des Oranienburger Ferdinand-Runge-Gymnasiums zusammen mit Lehrern und Eltern protestiert, nachdem bekannt wurde, dass ihre Schule geschlossen werden soll. Eltern haben einen Verein gegen die Schließung gegründet, Unterschriften gesammelt, und schließlich haben sich Schüler und Lehrer 72 Stunden in dem Gebäude einquartiert und gelernt und gelehrt für Bildung ohne Ende. „Der Studentenstreik in Berlin war für uns Vorbild“, sagt die Lehrerin. Am vergangenen Mittwoch stimmte der Kreistag von Oranienburg über das Schicksal der altehrwürdigen Schule ab: Begnadigung. Mit einer Stimme Mehrheit beschlossen die Abgeordneten, dass im September wieder Siebtklässler am Runge–Gymnasium aufgenommen werden. „Wir lagen uns in den Armen, es war unglaublich.“ Carola Neumann schüttelt lachend den Kopf.

In rotem Pullover und schwarzem Trägerkleid steht sie am Tag danach in der Mitte der imposanten Aula und dirigiert Schüler, die unter dem Deckengewölbe ein Transparent anbringen. „Runge sagt Danke“ hat die Elfte gerade im Kunstunterricht auf das Laken gepinselt. Dies gehe an die Eltern, sagt die Kunstlehrerin. „Sie haben uns während der Blockade mit Spießbraten, kalten Platten und Sushi versorgt.“ Und dann rühmt sie, was viele an der Schule als „Runge-Feeling“ bezeichnen. Andere nennen es eine familiäre Atmosphäre. Es hat mit der Plakette neben dem Eingang, der zum Bahnhof Oranienburg weist, zu tun. „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ steht darauf. Und mit der 90-jährigen Geschichte des Gymnasiums.

„Meine Oma war hier, und ich fände es cool, wenn auch meine Kinder hier lernen können“, sagt Janine Gröll, die in die 13. Klasse geht. Sie steht in einem Grüppchen auf der festgestampften Erde vor dem Schild „Raucherecke“. Die Stimmung sei gut, sie seien alle erschöpft und jetzt kämen die Abiprüfungen. Im Sommer wird sie die Schule verlassen.

Ehemalige Runge-Schüler sitzen im Kreis- und Landtag. Mit ihrer Hilfe ist es gelungen, den PDS-Antrag zur Erhaltung der Schule gegen eine große Koalition aus SPD und CDU durchzuboxen. „Das ist ein absoluter Einzelfall“, sagt Schulleiter Uwe Seidler. Er kommt gerade aus dem Unterricht: „Eine richtige Erholung war das“. Sein schwarzer Schnurrbart hängt erschöpft. So recht hatte er am Vortag nicht geglaubt, dass seine Schule weiter offen bleibt. Die Tatsachen sind zu drückend.

In ganz Brandenburg hat sich die Zahl der Siebtklässler in den letzten drei Jahren von einst 32.000 auf 16.000 halbiert. Schuld daran ist der Geburtenrückgang zu Wendezeiten. Diesem „Knick“ fiel bereits ein Viertel der Grundschulen zum Opfer. Nun kommt die Geburtenflaute auch bei den weiterführenden Schulen an. Am ärgsten trifft es die Gesamtschulen: Über 100 werden aufgelöst. In 46 Fällen ist das bereits geschehen. Von den 26 zu schließenden Realschulen sind schon drei zugemacht worden. Zehn Auflösungsbeschlüsse für Gymnasien sind im Lande bereits verabschiedet worden. Der elfte für das Runge-Gymnasium fiel durch. Der SPD-Fraktionschef im Landreis Oberhavel, Andreas Noack, drohte in Interviews an, dass diese Entscheidung zu Lasten anderer Schulen gehen werde.

Genau das will Schuldirektor Seidler nicht. „Das hieße, die Schulen gegeneinander auszuspielen.“ Wohl merkte er, dass die anderen fünf Gymnasien im Kreis Oberhavel sich nur zurückhaltend solidarisierten. Noch kämpfe jede für sich, doch künftig müssten die Schulen kooperieren, sagt Seidler. Denn in vier Jahren verteile sich das geschrumpfte Grüppchen der heute 13-Jährigen auf die Leistungskurse. Damit trotz weniger Schüler viele Kurse angeboten werden könnten, müssten die Gymnasien zusammenarbeiten und die Fächer untereinander aufteilen. „Die Arbeit fängt erst an.“ Er blickt ernst. So richtig traut er der Entscheidung des Kreistags nicht.

Bereits vor zwei Jahren sollte das Runge aus finanziellen Erwägungen geschlossen werden, nun waren die Schülerzahlen Auslöser. Dieses Argument könnte in zwei Jahren wieder hervorgeholt werden.

„Hier wird höhere Bildung künstlich verknappt“, sagt die PDS-Kreistagsabgeordnete Gerrit Große. Sie hat einen guten Ruf am Runge-Gymnasium, hat sie doch entschlossen für den Erhalt gestritten. „Die restriktive Bildungsphilosophie in Oberhavel sorgt dafür, dass nur 28 Prozent der Schüler ans Gymnasium kommen.“ In der Vergangenheit habe es deshalb immer wieder Klagen gegeben und viele Eltern hätten ihre Kinder letztendlich nach Berlin geschickt.

Mit dem Erhalt des Runge-Gymnasiums tut sich nun ein Zeitfenster auf, in dem erstmals sogar 35 Prozent der Schüler die gymnasiale Oberstufe besuchen könnten. Große hofft, dass es genutzt wird: Nur zögerlich sprächen Grundschulen Gymnasialempfehlungen aus. Die Angst, dass das Abitur verwässert werde, sei groß.

Kunstlehrerin Carola Naumann hat sich auf den Bühnenrand gesetzt. Das Transparent hängt in der nun leeren Aula. Carola Naumann ist zufrieden. „Das Schönste ist, dass unsere Schüler Erfolg hatten, als sie sich politisch engagiert haben. Sie haben gemerkt, dass Politik spannend sein kann.“ Das, sagt Naumann, sei Lebenskunde.