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Archiv-Artikel

Bilder vom längsten Straßenstrich Europas

Der Kölnische Kunstverein zeigt die Videoinstallation „Warte Mal!“ der Schwedin Ann-Sofie Sidén. Darin soll der Besucher, wenn er die Interviews mit Prostituierten und Bordellbesitzern ansieht, Teil des Milieus werden

KÖLN taz ■ Wer abends am Kölnischen Kunstverein vorbeigeht, sieht dort – von innen auf ein Fenster projiziert – in einer Endlosschleife ein romantisch-erotisches Video: Eine blonde Frau im Badeanzug turnt an einem Teichufer herum. Eva heißt sie und wirbt für die Ausstellung „Warte Mal!“. Was diese tagsüber zeigt, ist alles andere als romantisch: eine „Reportage“ vom „längsten Straßenstrich Europas“, den Straßen in Nordtschechien zur Grenze nach Deutschland.

Neun Monate lang hielt sich die schwedische Künstlerin Ann-Sofie Sidén dort auf. In dieser Zeit erwarb sie sich das Vertrauen von Prostituierten (Eva ist eine von ihnen), Freiern, Bordellbetreibern und Polizisten. Die oft erschreckend offenen Gespräche mit ihnen hielt sie auf Video fest. Es sind Zeugnisse eines menschenverachtenden Gewerbes: Die Frauen erzählen von Verschleppungen und Vergewaltigungen, von Prügeln und Ausbeutung, von brutalen Zuhältern und gewalttätigen Freiern, von Träumen und Alpträumen und von vergeblichen Befreiungsversuchen. Der Bordellbesitzer träumt von einer reichen Zukunft, die Polizisten von einer ruhigen Schicht, ein Freier und eine Hure von einer gemeinsamen Zukunft – alles zusammen eine soziologische und psychologische Studie der käuflichen Liebe unter den besonderen Bedingungen eines rechtsfreien Raums im Kapitalismus.

„Warte Mal!“ liegt im Trend einer politisch engagierten Kunst, bei der sich schon auf der letzten Documenta manche Besucher entnervt fragten, ob sie sich nicht auf ein Dokumentarfilm-Festival verirrt hätten. Fast sechs Stunden würde es dauern, alle Videos (OmeU) anzusehen, inklusive Aufnahmen von einer Kneipenparty, einer Fahrt über die Straßen oder von Tagebuchnotizen. Die Interviews sind in der Regel klassisch streng aufgenommen: eine Kameraeinstellung, kaum Schnitte.

Doch Sidén scheint der Aussagekraft ihrer Videos nicht zu trauen und bettet sie in eine ausgeklügelte Ausstellungsarchitektur ein. Sie zeigt sie in unterschiedlich großen Kabinen mit durchsichtigen Plexiglaswänden. So soll der Besucher sich als Voyeur fühlen, der Zugang in eine verborgene Welt gefunden hat und Teil von dieser wird. Gleichzeitig wird er selber zum Opfer anderer Voyeure – der anderen Ausstellungsbesucher. Ein hoher Aufwand für diesen Effekt.

Hausherrin Kathrin Romberg ordnet „Warte Mal!“ in das große Projekt „Migration“ ein, in dem der Kunstverein in den nächsten Jahren die aktuelle, globale Wanderungsbewegung aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchten will (zur Zeit auch mit einer Vortragsreihe über den Zusammenhang von Architektur und Migration). Formal ist „Warte Mal!“ selbst ein „Migrations“-Projekt: Es überschreitet die Grenzen gängiger Genres. Inhaltlich ist der Zusammenhang offensichtlich: Der nordböhmische Straßenstrich ist ein Puzzlestein in der größten Wanderungsbewegungen der jüngsten Geschichte, eine Folge des Wohlstandsgefälles zwischen West und Ost und der geöffneten Grenzen, dessen Folgen noch lange nicht politisch erkannt sind. Jürgen Schön

„Warte Mal!“ von Ann-Sofie Sidén: Kölnischer Kunstverein, Hahnenstr. 6, bis 8. April, Di-So 13-19 Uhr, Außeninstallation „Flowers“ täglich 19-2 Uhr