: Der „Ehrenmord“ wird endlich zum Thema
Die Ermordung einer jungen Frau durch ihre Brüder führt in der Türkei zu einer breiten öffentlichen Debatte
ISTANBUL taz ■ Sie kamen um Mitternacht. Wie in einem Mafia-Film schlichen sie ins Krankenhaus, versteckten sich, bis sie ungesehen ins Zimmer schlüpfen konnten, und feuerten dann der Frau mehrere Schüsse in den Kopf. Die 22-jährige Güldunya aus dem Dorf Erler im Südosten der Türkei überlebte noch zwei Tage im Koma, bis sie am Wochenende dann starb. Die Mörder wurden festgenommen: es sind ihre beiden Brüder Ferit und Irfan, 20 und 24 Jahre alt.
Schon für die schweren Verletzungen, mit denen Güldunya ins Krankenhaus eingeliefert worden war, waren ihre Brüder verantwortlich. Bereits eine Woche vor ihrem Tod hatten sie versucht, ihre Schwester zu ermorden. Sie hatten sie auf offener Straße in Istanbul niedergeschossen und in der Annahme, sie wäre tot, liegen gelassen. Passanten riefen einen Krankenwagen und die Frau wurde zunächst gerettet. Zwei Tage später vollendeten die Brüder den Mord.
Diese jüngste Bluttat in einer Serie so genannter Ehrenmorde hat die türkische Öffentlichkeit tief aufgewühlt. Die Regierung solle gegen Familien, die ihre weiblichen Mitglieder ermorden, weil sie angeblich ihre Ehre beschmutzt hätten, endlich schärfer vorgehen, fordern die meisten Kommentatoren. Außerdem müsse der Staat Frauen, die von ihrer eigenen Familie bedroht werden, Schutz anbieten.
Die überwiegende Anzahl dieser Morde geschieht in den armen, unterentwickelten kurdischen Gebieten der Türkei oder im Milieu von Familien, die aus dem Osten in die Vorstädte des Westens ausgewandert sind. Seit der Bürgerkrieg im Südosten mehr oder weniger beendet wurde, hat der Blick sich wieder auf gesellschaftliche Probleme gerichtet, die durch den Krieg verdeckt worden waren.
Vor allem haben mehr und mehr Frauen angefangen, sich gegen die barbarischen Ehrgesetze einer feudalen Gesellschaft zu wehren. In Diyarbakir, der größten Stadt in den kurdischen Gebieten der Türkei, gründeten sie die Initiative „Kamer“, die versucht, bedrohten Frauen Schutz zu bieten und gleichzeitig auf die Familien einzuwirken, um sie von ihren mörderischen Vorhaben abzubringen. Zurzeit hat Kamer nach eigenen Angaben 20 Frauen versteckt, die vor ihren Familien geflohen sind.
Auch der Mord an Güldunya kam nicht überraschend. Die Frau war vom Mann ihrer Cousine geschwängert worden, ob in Folge einer verbotenen Liebesbeziehung oder weil sie vergewaltigt wurde, bleibt in den Berichten widersprüchlich. Die Familie beschloss, sie zunächst zu einem Onkel nach Istanbul zu bringen, damit sie dort ihr Kind gebären konnte. Da die Frau ahnte, dass die Familie sie anschließend ermorden wollte, ging sie zur Polizei. Die setzte sich mit dem Vater in Verbindung, der beteuerte, man habe ihr längst verziehen. Die Frau wurde nicht geschützt und wartete verzweifelt im Haus ihres Onkels, bis ihre Brüder kamen, um sie zu ermorden.
Mit dem Mord in einem Krankenhaus mitten in Istanbul hat das Thema nun endlich die Aufmerksamkeit erreicht, die ihm schon lange zukommt. Eine der prominentesten Unterstützerinnen der Fraueninitiative „Kamer“ war die ermordete schwedische Außenministerin Anna Lindh. Die Ermordung einer jungen Frau in einer kurdischen Migrantenfamilie in Schweden hatte Lindh bewogen, für die Frauen in Diyarbakir materielle und ideelle Hilfe innerhalb der EU zu mobilisieren.
Nicht zuletzt aufgrund des so erzeugten Drucks der EU debattiert das türkische Parlament nun schon seit über einem Jahr eine Reform des Strafgesetzbuches, mit der unter anderem sichergestellt werden soll, dass für „Ehrenmorde“ keine mildernden Umstände mehr geltend gemacht werden können. Bisher war es oft so, dass ein möglichst junger männlicher Verwandter den Mord verübte und anschließend im Bewusstsein, als „Ehrenmann“ gehandelt zu haben, für ein oder zwei Jahre ins Gefängnis ging. Das Gesetz wird im zuständigen Justizausschuss hin und her diskutiert, weil auch viele der konservativen islamischen Abgeordneten der regierenden AKP die „Ehre“ der Familie für ein schützenswertes Gut halten.
In Istanbul und anderen Städten des Landes wollen viele Frauenorganisationen den Kampf gegen die „Ehrenmorde“ am 8. März zum bestimmenden Thema machen. Güldunya soll mit einem großen Trauerzug symbolisch beigesetzt werden.
JÜRGEN GOTTSCHLICH