Das Vorläufige führt Regie

Den Anweisungen des Choreografen ist Folge zu leisten: Bei der Tanznacht Berlin 08 soll mitgemacht werden. Das Festival beginnt am Donnerstag in den Uferhallen im Wedding. Sie werden für das Hochschulübergreifende Zentrum Tanz umgebaut

Seit 2006 wird in einem Pilotprojekt das erste Hochschulübergreifende Zentrum Tanz in Berlin aufgebaut. Bisher fehlten dem ersten Bachelor-Studiengang eigene Räume; sie zogen vom Podewil in die Tanzfabrik und schließlich in schlecht geheizte alte Werkstätten der Komischen Oper, bis endlich die Uferhallen als Domizil gefunden waren. Seit April 2008 konnten dort drei Räume provisorisch genutzt werden, jetzt wird der Umbau geplant, für den Mittel der Stiftung Lotto bereitstehen.

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Peter Stamer ist ein Mann von ungewöhnlich hoher Begeisterungsfähigkeit. „Der ideale Zuschauer der Tanznacht Berlin 08 kommt am Donnerstagabend in die Uferhallen an der Panke und geht nach vier Tagen wie gewandelt nach Hause“, sagt der Kurator des Festivals Tanznacht und ergänzt in das erstaunte Schweigen hinein: „Übernachten kann er ja im Trailerpark.“

Peter Stamer kommt aus Wien, vom dortigen Tanzquartier. In Berlin tritt er an als Kurator der Tanznacht, die vor acht Jahren von der Tanzfabrik gegründet wurde und seitdem alle zwei Jahre das breite Spektrum der Berliner Tanzszene in einer Nacht zu bündeln versuchte. Weil das nur schwer gelingen konnte, ging der Marathonnacht bald ein zweiwöchiges Format „Made in Berlin“ mit vielen Uraufführungen voraus. Dieses Jahr hat Stamer zusammen mit der Dramaturgin Judith Brückmann ein neues Konzept entwickelt, das zwar noch „Tanznacht“ heißt, aber an vier Tagen (4. bis 7. Dezember) zu einem dichten Festival einlädt.

Das Besondere aber ist der Ort, an dem es spielt: die Uferhallen im Wedding. Denn die werden demnächst als neuer Standort für Tanzausbildung, Proben und Produktionen ausgebaut. Mit der Tanznacht Berlin 08 entwickelt Stamer eine Vision von dieser Zukunft. Und will zugleich die Uferhallen mit großem Paukenschlag in die Karte der Kulturlandschaft Berlins eintragen.

Das BVG-Orchester spielt

Wer jemals den Radweg längs der Panke genommen hat, kann sich sicher an die schöne dunkelrote Fassade des von horizontalen Backsteinbändern gegliederten Baus erinnern. Bis 2006 waren die Uferhallen eine Straßenbahnwerkstatt der BVG. Deren Orchester, das dienstälteste Betriebsorchester der Stadt, wird zur Eröffnung der Tanznacht am 4. Dezember in der sogenannten Cafeteria spielen.

Sie ist im Studio 3 der alten, 140 Meter langen Reparaturhalle untergebracht, die mit Gruben, Schienen und Rolltoren noch die lange Vergangenheit als Werkstatt bezeugt. Hier wird man nicht nur essen und reden können, sondern auf dem großen Tanzteppich in der Mitte tagsüber auch an einem ungewöhnlichen Trainingsprogramm teilnehmen können. Denn die Kurse in Yoga, Modern Dance, Lachen oder Body-Mind-Centering sind für alle offen, nicht nur für Tanzerfahrene.

Das ist nur eines von vielen Elementen, mit denen Peter Stamer und Judith Brückmann hoffen, ein größeres Publikum als die gewohnten Tanzgänger an diesen Ort zu locken. Ein anderes für Berlin neues Format, „Show and Tell“, klingt dagegen wie ein Angebot für die, die es wirklich wissen wollen: Wie das geht, Choreografie? Stamer erklärt: „Da führt ein Choreograf das Publikum durch sein Stück, das am Vorabend uraufgeführt wurde, und markiert mit ihnen Gänge, Wendungen; erläutert die Verabredungen, wann etwas geschieht.“ Wer sich traut, den Anweisungen des Choreografen zu folgen, kann so in die innere Logik des Stücks eintauchen, sehen und wahrnehmen, was der Performer sieht und wahrnimmt. Wilhelm Groener, Colette Sadler und Jeremy Wade schließen so ihre Arbeiten auf.

Eine weitere Idee, mit der die strikte Trennung zwischen Bühne und Zuschauern aufgebrochen werden soll, ist der Trailerpark, der viel von einem Abenteuerspielplatz hat. Er ist am Ende der riesigen Halle aufgebaut: Von den Künstlern der Tanznacht wurden alte Wohnwagen zu intimen Installationen umgebaut, um zu Pausen, Massagen, Handlesen, zu Besuchen im Plüsch und in Weltraumbilder und zu sehr persönlichen Bekenntnissen einzuladen.

Was das alles mit zeitgenössischem Tanz und zeitgenössischer Kunst zu tun hat, ist für Stamer, den Wortspieler, leicht beantwortet: Für ihn ist ein Maßstab des Zeitgenössischen, wenn der Besucher seine „Zeit genossen“ hat. Und wie er zwei Wochen vor dem Festival durch die beinahe leeren Hallen führte, hier von einer Zuschauertribüne für 330 Leute erzählte, dort von einem Kino und dahinter vom Projekt einer Schulklasse, da sah man tatsächlich so etwas wie einen Jahrmarkt der bewegten Kunstformen entstehen.

Aber noch ist die Frage nicht beantwortet, warum dies alles in den Uferhallen stattfindet. Das hängt mit den zukünftigen Mietern zusammen. Denn hier sollen nicht nur die Studios der noch jungen Tanzuniversität Berlins, des sogenannten HüTZ (Hochschulübergreifendes Tanz-Zentrum), entstehen. Auch die Tanzwerkstatt aus dem Podewil und die Tanzfabrik aus der Kreuzberger Möckernstraße werden hier weitere Probenräume mieten.

Auftakt im „Café Pförtner“

Schon seit einem Jahr übrigens arbeiten die Studenten des HüTZ, der erste Bachelor-Studiengang der 2006 gegründeten Ausbildungsstätte, in nur provisorisch ausgebauten Räumen der Uferhallen; im Frühjahr 2009 aber soll der endgültige Umbau beginnen. Viel von der alten Hülle und ihrer Ausstrahlung von Expressionismus und Neuer Sachlichkeit bleibt dabei erhalten, wie die Backsteinmauern und die Tageslichtdächer.

Vor acht Jahren organisierte die Tanzfabrik das erste Mal die Tanznacht: An einem Abend stellten sich 18 Berliner Choreografen in der Akademie der Künste vor. Zur vierten Ausgabe der seitdem alle zwei Jahre veranstalteten Plattform zeigt sich die Tanznacht in ein viertägiges Festival verwandelt, das vom 4. bis 7. Dezember in die Uferhallen im Wedding einlädt, mit einem Programm für die Tage und die Nächte. Viele Choreografen sind wieder dabei: Labor-Gras, Frédéric Gies, Wilhelm Groener, Colette Sadler, Astrid Endruweit, Jeremy Wade, Laurent Chétouane, Zufit Simon, Two Fish und Martin Nachbar. Hinzu kommt ein breites Angebot an öffentlichen Trai- nings, Installationen, Filmen, das „pay as you wish“ bezahlt wird.

Das vollständige Programm und Tickettbestellung unter www.tanznachtberlin.de

Der Innenausbau wird allerdings tausende von Quadratmetern in Studios von 100 bis 250 Quadratmetern gliedern und ein neues Energiekonzept umsetzen. Dafür stehen netto 3,5 Millionen Euro an Lottomitteln zur Verfügung. Ist man einmal in den Uferhallen angekommen, entdeckt man, dass die Tanzcommunity längst nicht der einzige Nutzer des alten BVG-Areals ist, das auch auf der andern Seite der Uferstraße weitergeht. Dort sind noch bis zum 16. Dezember eine Reihe von Fotoausstellungen zu sehen. Viele bildende Künstler und Musiker haben hier neuerdings Ateliers. Sie alle sind, wie die Tanzleute auch, Mieter der UferHallen Immobilien AG, die das 37.000 Quadratmeter große Areal vor zwei Jahren kaufte und nach und nach an Kulturschaffende vermietet.

Mittendrin liegt, in den schön renovierten Räumen des ehemaligen Pförtnerhauses, das „Café Pförtner“, ideale Anlaufstelle für eine erste Stippvisite in diesem neuen Kulturzentrum Berlins. Irgendwie kann man noch nicht ganz glauben, dass allein das Kunstinteresse hier einige private Investoren zusammengebracht hat in der Absicht, an Künstler und Kunstinstitutionen günstig zu vermieten.

Die Vielzahl der Tanzakteure an diesem Ort ist aber auch Ergebnis der Lobbyarbeit, die in Berlin in den Tanz gesteckt wurde, seit 30 Jahren von der Tanzfabrik, seit 20 Jahren von der Tanzwerkstatt, seit 12 Jahren von Barbara Friedrich. Sie ist mit dem Management der neu entstehenden Studios beauftragt, von denen die Hochschule, die ihre Studiengänge ja gerade erst aufbaut, in vier, fünf Jahren mehr brauchen wird als 2009/2010. Die Zwischennutzung wird deshalb noch lange ein Thema sein. So führt das Vorläufige weiterhin Regie.

Für die Tanznacht Berlin 08 ist das aber eben auch das Reizvolle. Stamer setzt auf ein Publikum, das vom Unfertigen und sich Verändernden die Nase nicht voll kriegen kann. Sein Programm sieht zwar auch jeden Abend drei bis vier Aufführungen vor, aber gerahmt von Aktionen mit äußerst ungewissem Ausgang, die den Zuschauer zum Komplizen machen und seinen Blick von außen auf den Tanz verändern wollen: Körpererfahrung für jedermann! Und sei es Massage im Trailerpark.

Das ist ziemlich ehrgeizig, ziemlich mutig und für manche auch ziemlich abschreckend. Niemand kann vorhersagen, ob dann 10 oder 100 Menschen erfahrungshungrig auf den Tanzteppich streben werden.