: Arznei gegen Humorlosigkeit
Zweimal geträumt vom Volkstheater: Seit zehn Jahren besteht das Hackesche Hoftheater. Hier überlebt ein Stückchen DDR, und jüdische Kultur wird wieder ausgegraben aus Polizeiarchiven
von ESTHER SLEVOGT
Die Gegend rund um die Hackeschen Höfe ist seit einigen Jahren als Schauplatz wiedererstandenen jüdischen Lebens zu gewissem touristischem Ruhm gelangt. Über dem Viertel thronen Davidstern und goldene Kuppel der restaurierten ehemaligen Synagoge. Einrichtungen der Jüdischen Gemeinde sorgen für eine gewisse Authentizität. Doch es gibt auch Orte, wo das jüdische Flair lediglich Marketingfaktor ist. Nicht zuletzt die Juden selbst hat die Folklorisierung des vermeintlich Jüdischen im ehemaligen Scheunenviertel zunehmend irritiert – zumal es hauptsächlich Nichtjuden sind, die sich hier ins jüdische Leben stürzen, Klezmerkonzerte oder Theateraufführungen in jiddischer Sprache besuchen.
Zu den Hauptverdächtigen der inzwischen als „Jewish Disneyland“ leicht in Verruf geratenen Gegend gehört das Hackesche Hoftheater, das am 30. April zehnjähriges Bestehen gefeiert und sich seit Jahren dem jiddischen Theater verschrieben hat. Hoftheater-Prinzipal Burkhard Seidemann, der sich immer wieder mit dem Vorwurf des „Wiedergutmachungstheaters“ auseinander setzen muss, versteht die komplizierte Lage, in der sich sein hauptsächlich von Nichtjuden betriebenes Theater befindet. Nach 1945 habe man im Jiddischen eben nur noch eine Kultur der Opfer gesehen. Auch das junge Israel hatte mit dieser „Demutskultur“ nichts mehr am Hut. Erst der Nobelpreis für Isaac Bashevis Singer habe 1978 diese Kultur ins Gedächtnis der Welt zurückgebracht. Seidemann selbst verehrt das Jiddische als Kultur der absoluten Gewaltlosigkeit, als Kultur gegen das Siegen und für das Überleben. Wenn, Walter Benjamin zufolge, jede Kultur auch das Zeichen der Barbarei ist, die sie ermöglichte: wenigstens die jiddische Kultur ist völlig frei davon. Für Seidemann ist sie die Arznei, die er unserer kranken Welt verabreichen will. „Jude oder Nichtjude, scheißegal!“
Dies tut er nun seit zehn Jahren mit viel Idealismus und so gut wie ohne Subventionen. Die Schauspieler bekommen keine Gage und sind lediglich an den Abendeinnahmen beteiligt. Seidemann selbst verdient nebenbei Geld als „Kasperclown“, der als PR-Gag durch Baumärkte tourt. Hervorgegangen ist die Truppe aus dem Pantomimen-Ensemble des Deutschen Theaters, das 1991 abgewickelt wurde. Seit 1974 hatte man am Deutschen Theater am Konzept einer nichtliterarischen, am Volkstheater orientierten Theaterform gearbeitet. „Im Grunde setzen wir das jetzt mit dem Jiddischen Theater fort.“
Seidemann ist ein rasender Erzähler, der sich auf der Bühne in skurrile, manchmal fast gespenstische Figuren verwandeln kann: Augen verdrehend und Glieder verrenkend wie einst die knattermimenden Jahrmarktsspieler. Auf der Achterbahn seiner Erzählungen rast man durch die Epochen: von den GEMA-Bossen heutiger Tage, die das Theater mit aberwitzigen Musik-Tantiemen-Forderungen gerade wieder einmal an den Rand des Abgrunds treiben, ins Ostberlin der Siebzigerjahre, wohin es einst den jungen Thüringer Landpfarrer Seidemann ans einzige Off-Theater der DDR verschlug.
Noch weiter zurück muss er reisen, in Berliner Polzeiarchive: Denn ausgerechnet dort haben längst verloren geglaubte jiddische Theatertexte überlebt. Wollten jiddische Wandertruppen Anfang des letzten Jahrhunderts in Berlin gastieren, mussten ihre Stücke nämlich erst von der polizeilichen Zensurbehörde genehmigt werden, wo sie immer noch liegen. Dort wurde das Jubiläumsstück „Gott, Mensch und Teufel“ von Jacob Gordin von 1913 ausgegraben und viele Texte für das Stück „Die Rückkehr der Schauspieltruppe Jizchak Löwy nach Berlin“. Allein für solche Bergungsarbeiten an einer untergehenden Kultur ist das kleine Theater zu rühmen, echte und falsche Juden hin oder her.
Als man 1991 in die heruntergekommenen Räume zog, lagerten dort Sanitäranlagen aus DDR-Produktion, das Ex-DDR-Volk hatte längst die westlichen Baumärkte gestürmt. Eingerichtet wurde das Theater dann auch mit Hinterlassenschaften der DDR. Teile des Holzbodens stammen aus dem Palast der Republik. „Wenn man genau guckt, kann man darin noch die Löcher der Pfennigabsätze von Proletarier-Gattinnen finden, die beim Ball der Werktätigen tanzten“, sagt Seidemann. Die Stühle stammen aus der Werner-Seelenbinder-Halle, die abgerissen wurde, als Berlin Olympiastadt werden wollte. Die Scheinwerfer wurden in einer Nacht-und-Nebel-Aktion aus einem stillgelegten Fernsehstudio geklaut. Inzwischen ist das Hackesche Hoftheater eine Institution, die in keinem Berlin-Führer fehlt. Doch wenn man genau hinsieht, sieht man nicht bloß die Abdrücke der Pfennigabsätze im Parkett, sondern auch ein paar Träumer aus der alten DDR, die in der jiddischen Kultur, die von einer poetischen und volkstümlichen Hoffnung auf Erlösung durchdrungen ist, eine neue Heimat gefunden haben.