: Viele Russen, wenig Disko
Balladen in Blau-Weiß-Rot und Popepen aus der Jogginghose: Russlands Rock-Helden DDT spielten im Hamburger Docks
von Markus Flohr
Wer wissen will, was eine „Russendisko“ ist, muss hier im Norden recht lange suchen. Besser ist, einen Menschen aus Berlin zu fragen. Wie das war, im Kaffee Burger in der Torstraße im Bezirk Mitte, wenn sich eine „Russendisko“ angekündigt hatte. Auch ein paar Seiten aus Vladimir Kaminers gleichnamigen Buch können weiterhelfen. Zum zügellosen Selbstversuch, so behaupten einschlägig erfahrene Probanden, reicht Wodka (viel), Musik mit russischem Gesang (egal welche, laut) und eine beliebige Anzahl an Gästen (trinkfreudig, tanzwütig, hemmungslos).
Das ist die Legende, das ist Berlin und irgendwie eine andere Welt, denn für die meisten Norddeutschen liegt die Hauptstadt bekanntlich irgendwo kurz vor Moskau, nicht nur geographisch. Wer trotzdem wissen wollte, was eine „Russendisko“ ist, konnte am Donnerstagabend im Docks auf der Hamburger Reeperbahn schnuppern gehen. Die Chancen standen besser denn je. Russen waren viele da, laute Musik auch. Getanzt haben sie, am Ende fast hemmungslos. Es fehlte nur der Wodka.
Über den Spielbudenplatz zuckte schon weit vor dem ersten Ton von DDT das Blaulicht eines Krankenwagens, Menschenketten drückten sich aneinander, Wellenbrecher hielten sie zurück. Vier Security-Gorillas in schwarzen Jacken leisteten harte Arbeit, zumindest für ihre Verhältnisse. Sie mussten sprechen, Dinge erklären, mit Händen und Füßen: Wo es noch Karten gibt, zum Beispiel. Ein Sanitäter in roter Jacke bahnte sich eine Gasse durch die Menge zum Blaulicht, mit einem Bier in der Hand trabte er zurück.
Gedrückt wurde, weil sich alle übers Wiedersehen freuten. Drei Bussis: Links, rechts, links, oder umgekehrt. Bruder- und Schwesternküsse, wie bei einer großen Familie. Jede kannte jeden, alle verstanden sich. Alle, die Russisch sprachen. Sonst war auch keiner da.
Der Abtaster am Eingang fragte nach Flaschen. Ein junger Mann, schwarzer Mantel, lange braune Haare, zuckte mit den Schultern. „Wodka“ stammelte der Kontrolleur und malte mit seinen Händen eine Flasche in die Luft. Das sah komisch aus. Alle, die drumherumstanden, haben laut gelacht. Der Junge und seine drei Freunde durften dann so durch. Die ganze Aufregung galt einem untersetzten Brillenträger jenseits der 40, der mit XXL-Kurzarmshirt und fluffiger Jogginghose auf der Bühne stand.
Vor seinem Bauch baumelte eine Akustikgitarre mit Tonabnehmer. Er klimperte ein bisschen, nuschelte etwas Russisches ins Mikro. Dann erhob er die Stimme, und der ganze Saal, an die 1.500 – das Docks war voll – die Arme.
Der Typ im Fernsehabenddress war Jurij Schewtschuk, „National Hero“ in Russland, wie unterrichtete Kreise sagen, Freiheitsheld, Popmusiker, Politrocker, der Bruce Springsteen des Ostens und Sänger von DDT. Er hat ein durchdringendes Organ. Mit seinem „R“ rollt er alles Böse aus dem Weg, alles Ungerechte; alles, was er mit seinen klagenden „Na“ und „Anna“-Lauten nicht mehr fassen kann.
Mit gewaltigen Balladen und Rockepen füllen er und seine vier bis sechs Mitmusiker das klaffende Loch zwischen New Model Army und den Don Kosaken aus, Chorgesang und Klangwall-Synthie inklusive. Der Saal sang alles mit, eine blau-weiß-rote Russland-Flagge wurde geschwenkt, Fäuste flogen in die Luft, Tränen kullerten.
Sie lagen sich in den Armen, schunkelten sich durch die Strophen, wer allein stand, wurde schnell und vorbehaltlos eingemeindet.
Opa und Mama waren auch da, die Mehrheit aber so um die zwanzig. Sie hatten Kapuzenpullis von Iron Maiden oder Metallica an, ein paar trugen Jacken und fingerlose Fahrradhandschuhe aus Leder. Alle anderen sahen so aus, als wären sie nicht das erste mal im Docks, Hamburgs Oberprolo-Adresse.
Mit Fotohandys und Digitalknipsen versuchten sie ihn mit nach Hause zu nehmen, den Herrn Schewtschuk. Weil er hier nur 150 Minuten sang. Eigentlich ist das lange für ein Popkonzert. Aber es ist verdammt wenig für einen Besuch zu Hause.
Und die Disko? Wer Donnerstag im Docks war, der weiß jetzt sicher nicht genauer, was das ist. Aber vielleicht ein wenig, was Russland sein könnte.