Mit Spaß. Oder gar nicht

Die Bahn AG zeichnet die zehn lesefreundlichsten Kindergärten Deutschlands aus. Ob in Chemnitz, Hamm oder Jüchen am Niederrhein, die Steppkes lernen nicht nach Lehrplan, sondern nur spielerisch

von CHRISTIAN FÜLLER

Der Auftakt war so, wie üblicherweise über Bildung geredet wird. Der junge Herr von der Deutschen Bahn AG befindet, „dass Kinder unser höchstes Gut sind“. Ja, ja. Hört man öfter. Meistens Sonntags, wenn die Politik über die Lesestudie zu schwadronieren beginnt. Dann begann der mutmaßliche Vorstandsreferent eine Liste von zehn Kindergärten aus ganz Deutschland herunterzuleiern, auf dass man ihm einen Lesekurs gewünscht hätte.

Dabei kann dem jungen Mann geholfen werden. In jeder der zehn Kitas, die von der Stiftung Lesen und der Bahn AG gestern als die lesefreundlichsten Kindergärten Deutschlands ausgezeichnet wurden, lernen Kinder mit dem Wort und dem Buch umzugehen.

Eine kleine blaue Kiste braucht es dazu zum Beispiel, mehr nicht. In den „Erzählkisten“ der Kindertagesstätte der Gemeinde Jüchen (Nordrhein-Westfalen) finden sich ganz banale, alltägliche Dinge. Ein Kinderschokolade-Papierchen, ein Karton mit fünf schwarzen Punkten drauf – und natürlich Johnny, Franz und Waldemar. Das sind Hauptfiguren des Kinderbuchautors Helmar Heine. Der Job der Kids in der niederrheinischen Kita ist es nun, mit den Dingen und ihren literarischen Helden, die in der Kiste stecken, eine Geschichte zu erfinden.

Lesen lernen heißt in Kitas im seltensten Fall lesen lernen. In Wahrheit besteht es darin, Bilderbücher nach allen Regeln der Kunst zu zerlegen. Schon Dreijährige, so berichten die Erzieherinnen, beginnen die Helden aus der Geschichte herauszulösen und lassen sie neue Abenteuer erleben. Oder die Geschichte wird auf einer improvisierten Bühne nachgespielt. Oder es werden Reime, Zitate, Passagen aus dem Text herausgeholt und memoriert. Oder, oder, oder … An der Jüchener Kita ist frau schon einen Schritt weiter: Dort machen die Eltern für ihre Kinder Theater – sie bringen Stücke aus Kinderbüchern auf die Kita-Bühne. Die Kita errang gerstern den bronzenen Vorlesebär.

„Sie müssen Leseförderung spielerisch machen“, sagt Gisela Jansen, als handelte es sich um eines der zehn Gebote. Jansen ist die Leiterin in Jüchen, dort sind 75 Kinder zwischen drei und zehn Jahren zu Hause. „Die Schulkinder“, erklärt sie, „die wir im Hort betreuen, interessieren sich halt nicht mehr so fürs Lesen. An die kommen Sie nur über Motivation ran.“

Ist das die spinnerte Einzelmeinung einer Erzieherin, die ein bisschen zu viel vom derzeitigen Bildungsmodewort, der „individuellen Förderung“, abbekommen hat? Nein, nein, widerspricht Iris Wisznewski, eine Kollegin aus der Evangelischen Kindertagesstätte „Arche Noah“ in Hamm (Nordrhein-Westfalen). „Sie müssen die Kinder neugierig machen“, sagt sie. „Sprachlernen im Kindergarten darf nie stures Lernen sein, geschweige denn Buchstabenbüffeln.“

Die Kita in Hamm, die auf Platz zwei des Leserankings landete, hat sich ihren Preis übrigens durch ein taffes Projektmanagement gesichert. Jeder Unternehmensberater hätte seine Freude, wie das neunköpfige Kita-Team anhand eines Mind-Mappings gesammelt und sortiert hat, was eigentlich an Leseförderung bei ihnen schon stattfindet. Eine Menge.

Der Clou in Hamm aber ist eine Klappkarte. Darauf haben die Erzieherinnen die Titel ihrer Lieblingskinderbücher gepappt – und wenn man die Karten umblättert, eröffnen sich die wichtigsten Erkenntnisse aus dem Buch. Die „Bärenfreunde“ von Hildegard Müller etwa stehen da für Konfliktlösung und Partnerspiele. Der „total verliebte Franz“ für Werte und Normen sowie Sprachförderung durch Reime.

Ist bei so viel Kreativität also alles paletti in deutschen Kitas? Mitnichten. Gisela Jansen findet, dass sich mehr tun müsste, um vom schlechten Image loszukommen, das Kitas häufig haben. „Wir wollen uns bewusst absetzen“, sagt sie. „Die Leute sollen nicht sagen können: ‚Ach, diese doofen Erzieherinnen!‘ “ Es müsse Schluss sein mit dem Dornröschenschlaf der deutschen Kindertagesstätten.

Dass es so weit noch lange nicht ist, zeigte selbst die gestrige Veranstaltung. Nicht etwa Bahnchef Hartmut Mehdorn hatte ein Herz für Kinder, sondern ein Subalterner.

Und im Hochhaus am Potsdamer Platz wurden Minipreise vergeben. Der goldene Vorlesebär ging mit 1.500 Euro nach Chemnitz. Keine Frage, gutes Geld für die Kita. Aber ein Kleckerbetrag für das Unternehmen Zukunft.

Übrigens: Die Sprachlernspiele, die selbst gebastelten Ordner, die Ausflüge und Buchlisten des Siegers, der Chemnitzer (Sachsen) Kindertagesstätte „Spielhaus“, aufzulisten, sprengt den Rahmen. Schauen Sie einfach mal vorbei.