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Archiv-Artikel

Anschläge erschüttern das Selbstbewusstsein

Viele Basken halten Ministerpräsident José María Aznar für den eigentlich Schuldigen. Sollte die ETA der Urheber des Terrors sein, wäre die fragile Balance zwischen baskischen Nationalisten und den großen Volksparteien aus dem Lot

„Ich trauere um dieOpfer und hoffe, dass die ETA nicht dahinter steckt“, sagt ein Baske

SAN SEBASTIÁN taz ■ Das Banner am Casa Consistoral, dem Rathaus von San Sebastián im Baskenland, hängt schon seit langem am Balkon. Doch auf einmal ist es wieder im Visier der Kameras. „ETA no“ – nein zur ETA – steht darauf, zweisprachig, in Spanisch und Baskisch, wie es der Sprachenproporz hier vorschreibt. Mehrere tausend Schüler haben sich am Tag nach dem Attentat vor dem Rathaus versammelt und eigene Schildchen mitgebracht, die sie über ihre Köpfe halten. Auf vielen von ihnen steht geschrieben, der spanische Ministerpräsident José María Aznar sei schuld. Oder seine Volkspartei (Partido Popolar). Auch die Sozialisten (PSOE) halten manche auf ihren Einheitstafeln für „schuldig“.

Während die Schüler schweigend eine Viertelstunde verharren, ist es auch im dahinter liegenden Altstadtviertel auffallend ruhig. Hier in den engen Gassen hängt über dem Eingang zu mancher Bar die baskische Flagge und an vielen Balkonen das Erkennungszeichen der Separatisten: eine schwarze Landkarte auf weißem Grund, die große Teile Südwestfrankreichs einschließt.

Die Bars sind leer, als wolle sich niemand einer unangenehmen Frage stellen. Die baskisch-nationalistische Tageszeitung Gara hat gestern die Anschläge der al-Qaida zugeschrieben. „Weder das Ziel noch die Ausführung“ passe zur ETA, beschwört das Blatt. Andere Zeitungen informieren ausführlicher und schreiben über beunruhigende Vorgänge aus der letzten Zeit. Sie legen den Schluss nahe, dass die ETA ihre Taktik geändert hat und einen ungezielten Terrorakt plante. Erst im Februar stoppte die Guardia Civil einen Lieferwagen, der mit über einer halben Tonne Sprengstoff beladen war, auf einer Zufahrtsstraße nach Madrid. Die verhafteten ETA-Mitglieder gaben an, die Autobombe hätte in der Avendida de America, einer der Hauptarterien der spanischen Hauptstadt, gezündet werden sollen.

Die Basken stehen unter Schock, weil die meisten sich Täterschaft der ETA bei diesem Massaker durchaus vorstellen können. „Ich trauere um die Opfer“, sagt ein alter Baske, der ebenfalls zu der Schülerkundgebung vors Rathaus gekommen ist, „und ich hoffe gleichzeitig, dass die ETA nicht hinter diesem Anschlag steckt.“

Für den gemäßigten Ministerpräsidenten der autonomen Provinz, Juan José Ibarretxte, wäre das der Super-GAU. In einem schwierigen Balanceakt zwischen Nationalisten und den großen Volksparteien laviert er seit Jahren recht erfolgreich und hegte schon die Hoffnung, den Autonomiestatus der Region noch weiter ausbauen zu können. Die ETA könnte ihm jetzt einen Strich durch dieses Kalkül gemacht haben.

Für die in San Sebastián lebende deutschstämmige Europaabgeordnete der spanischen Sozialisten, Barbara Dührkop, kommt die ETA für die Anschläge durchaus in Betracht. „Das würde sehr wohl passen. Die sind in den letzten Monaten durch Verhaftungen so geschwächt worden, dass sie jetzt möglicherweise durch diese Wahnsinnstat beweisen wollen, dass mit ihnen noch zu rechnen ist.“ Barbara Dührkop ist seit 20 Jahren Witwe. Ein ETA-Kommando erschoss ihren Ehemann, einen sozialistischen Politiker, am Eingang zu seiner Wohnung. MATTHIAS MOLINARI