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Archiv-Artikel

Die Kraft, die Normen schafft

Bürgersinn und republikanischer Geist werden in regelmäßigen Abständen für tot erklärt. Doch sind die beiden quicklebendig – Melancholie ist also fehl am Platze

Was ein Politiker darf und was nicht, spiegelt den Wandel gesellschaftlicherWertorientierungen

Warum, zum Teufel, halten wir uns eigentlich an Gesetze und kommen unseren staatsbürgerlichen Pflichten nach? Die nahe liegende Antwort könnte lauten: Weil wir sonst Sanktionen fürchten müssen. Wo die Verfolgung nicht greift und/oder der Konformitätsdruck ausbleibt, beginnt das Reich der massenhaften lässlichen Verfehlungen, vom Versicherungsbetrug bis zur Fahrerflucht. Kataloge dieser Art sind in jeder x-beliebigen Jeremiade über den Verfall der Werte nachlesbar. Die Pointe hierbei: Den Politikern dürfe nicht mehr abverlangt werden als das, was in der Gesellschaft gilt. Wo überall nach Beute gejagt wird, haben eben auch sie ihre speziellen Jagdgründe.

Um der Sittenverderbtheit entgegenzuwirken, haben deshalb Leute wie der ehemalige Bundeskanzler und Kant-Fan Helmut Schmidt dafür plädiert, in unserer Verfassung den Grundrechten einen Katalog der Grundpflichten zur Seite zu stellen. Die Bürger sollen endlich kapieren, dass ihr Verhältnis zum Staat sich nicht in Ausweichmanövern vor der öffentlichen Verantwortung erschöpft. Im Grundgesetz gibt es bis jetzt keine Korrespondenz von Grundrechten und Grundpflichten, weil die Grundrechte als aus der Menschenwürde folgend und damit als jeder Verpflichtung vorgängig gedacht werden. Das trifft auch speziell auf die Bürgerrechte zu, denen systematisch keine Bürgerpflichten entsprechen. Zwar wird die allgemeine Wehrpflicht (noch) durch die Verfassung festgelegt, aber nach einer allgemeinen Steuer- oder Wahlpflicht wird man vergeblich fahnden.

Hier kommen zwei aufeinander bezogene Ideenkomplexe ins Spiel, der des Gemeinwohls und der des Gemeinwesens. Nicht nur die Politiker, sondern jeder von uns soll demnach sein Scherflein zum Gemeinwohl beitragen. Hier geizt unsere Verfassung mit Begriffen wie mit Aufgabenstellungen. Wir lesen nur den ebenso rätselhaften wie folgenlosen Satz: „Eigentum verpflichtet, sein Gebrauch soll dem Gemeinwohl dienen.“ „Gemeinwohl“ und die ihm angemessenen Verhaltensweisen werden also vorausgesetzt. Aber diese Annahme ist alles andere als selbstverständlich. Sie verweist auf einen Begriff von „bürgerlicher Gesellschaft“, der gerade nicht den anarchisch-eigensüchtigen, dem Profitstreben folgenden Bourgeois im Auge hat, sondern den Citoyen, der sich der öffentlichen Sache annimmt. Weshalb man sich auch angewöhnt hat, von „Zivilgesellschaft“ oder „Bürgergesellschaft“ zu sprechen, wenn gerade von dieser Art von Engagement die Rede ist.

In den alten Stadtrepubliken Italiens oder den deutschen Reichsstädten war der Bezug aufs Gemeinwohl, hergestellt durch Eintracht, Frieden und Gerechtigkeit, konstitutiv für das Selbstverständnis der Bürger, die allerdings immer nur eine Minderheit der Stadtbewohner ausmachten. Die Republik galt als das „gute Regiment“, wie auf dem berühmten Fresko Ambrogio Lorenzettis von 1337 im Rathaus von Siena zu sehen ist. Das „schlechte Regiment“, unter dem Handwerk und Künste niedergehen, wird dort als tyrannisches Militärregime porträtiert. Auch wenig geachtete Gewerbe wie das der Schuster haben auf dem Fresko der Idealstadt ihren Platz. Waren es doch die Schuster, die in vorderster Reihe standen, als es galt, einen aristokratischen Staatsstreichversuch in Siena niederzuschlagen. Notare und Metzger (als Hilfstruppe der Konterrevolution) sind hingegen programmatisch ausgelassen. Das „gute Regiment“ hatte also soziale Träger, die im Kampf gegen das Patriziat die Republik verteidigten. Die Schuster waren arm, verfügten aber über Bürgertugend, über „virtu“.

Die Stadtrepubliken gingen unter oder wurden die Beute städtischer Oligarchien, aber es gibt eine Erinnerungsspur an das „gute Regiment“ bis zu den Revolutionen der Neuzeit. Karl Marx war der Meinung, dass die Jakobiner-Citoyens in der Französischen Revolution einer produktiven Selbsttäuschung erlagen. Sie trieben die Revolution in dem Glauben voran, den Bürgeridealen und der Bürgertugend zum Sieg zu verhelfen, bereiteten aber nur der Bourgeoisie und den bürgerlichen Produktionsverhältnissen den Weg. „Virtu“ als politische Tugend schien Marx ein ideologisches Konstrukt. Die Arbeiterklasse würde bei ihrem Zusammenschluss nicht einem Tugendideal folgen, sondern der vom Kapitalismus diktierten Notwendigkeit. Sie würde sich nach ihren vorgegebenen, objektiven Klasseninteressen richten, um ihre universellen Ziele zu erreichen. Eine zuversichtliche, von der Geschichte nicht bestätigte Analyse.

Aber ist der Rekurs aufs Gemeinwohl nicht wirklich eine Ideologie, die von den herrschenden Eliten immer dann in Stellung gebracht wird, wenn es gilt, Lasten auf die Minderbemittelten abzuwälzen? Zweifellos. Aber solche Manöver sind nur deswegen erfolgreich, weil allem Anschein zum Trotz staatsbürgerliche Tugend nicht nur scheinheilig von den Politikern eingefordert wird, sondern in der Gesellschaft tatsächlich normativ wirkt. Es handelt sich hierbei nicht um ein Bewusstseinsrelikt aus der Zeit vor dem entwickelten Kapitalismus. Gerade die Geschichte der wichtigsten zivilgesellschaftlichen Initiativen, die Ökologie-, die Frauen- und Friedensbewegung wie auch die Solidaritätsbewegung für die unterentwickelt gehaltenen Länder der „Dritten Welt“ zeigen, dass hier eine starke normgenerierende Kraft am Werk ist. Diese Kraft erschöpft sich nicht in einem antipolitischen Wertebewusstsein, das die Bürgergesellschaft abstrakt gegen „den Staat“ setzt. Die „zivilgesellschaftlichen“ Bewegungen halten zwar in der Regel kritische Distanz zum Staatshandeln, beeinflussen dieses aber durch politische Ideenmobilisierung, durch neue Formen politischer Assoziation und durch die neuen Bürgerwerte, die in ihnen ihren Ausdruck finden. Wo ständig „deliberiert“, also öffentlich beraten wird, wächst der Begründungszwang innerhalb der politischen Eliten. Auch hier handelt es sich um die Artikulation von Interessen. Aber die sind anschlussfähig, sind in der Lage, den Horizont von Gruppen- beziehungsweise nationalen Interessen zu überwinden.

Bezüglich des Gemeinwohls geizt unsere Verfassungmit Begriffen wie mit Aufgabenstellungen

Was ein Politiker darf und was er besser unterlässt, richtet sich deshalb nicht nach einem festliegenden „republikanischen“, das heißt auf das Gemeinwohl bezogenen Kodex, sondern spiegelt den Wandel gesellschaftlicher Wertorientierungen wider. Dass beispielsweise ein Politiker keinen verbilligten Kredit eines befreundeten Geldgebers annehmen darf, dass er nach Ausscheiden aus einem Staatsamt seine Beziehungen nicht in bare Münze umsetzen darf, ist nirgendwo vorgeschrieben, gilt aber trotzdem in der öffentlichen Meinung. Der Übermacht der Wirtschaft über die Politik folgt eine geschärfte Aufmerksamkeit des Publikums, eine neue Sensibilisierung für die realen Machtverhältnisse. Hieraus folgen Anforderungen, die sich nicht in Allgemeinplätzen über die Korruption der politischen Klasse erschöpfen. Melancholie hinsichtlich der Bürgertugenden ist also fehl am Platze.

CHRISTIAN SEMLER