piwik no script img

Archiv-Artikel

Wie sag ich's meinem Volk?

Spaniens Regierung versuchte Bevölkerung und Presse zu manipulieren: Die These von der ETA-Täterschaft sollte sich vor der Wahl durchsetzen

MADRID taz ■ „Aznar, das Volk sagte Nein – die wir jetzt sterben müssen, grüßen dich“, seht auf einer der Wände des Bahnhofs von Atocha geschrieben. Je mehr Indizien auf eine mögliche Urheberschaft internationaler Terrornetzwerke hindeuten, um so lauter wird der Vorwurf, die Regierung habe Spanien mit der Irakpolitik, gegen die Millionen auf die Straße gingen, überhaupt erst ins Fadenkreuz al-Qaidas gebracht.

„Wer war's? Wer war's?“, schallte es bereits am Freitagabend auf den Trauerdemonstrationen vorwurfsvoll den Politikern entgegen. 2,3 Millionen waren in Madrid auf der Straße, über 11 Millionen waren es in ganz Spanien. Viele der Demonstranten beschuldigten die Konservativen, die Untersuchungsergebnisse nicht bekannt zu geben, um bei den gestrigen Wahlen nicht abgestraft zu werden. Zwei Anrufe bei der baskischen Zeitung Gara und dem Sender ETB, in denen eine Stimme im Namen von ETA „jede Verantwortung für die Anschläge“ zurückwies, lassen die Vorwürfe noch lauter werden. Das Gleiche gilt für die Nachricht in der spanischen Tageszeitung El País, nach der Außenministerin Ana Palacio die Botschafter angewiesen haben soll, die Täterschaft von ETA bei den Madrider Anschlägen zu vertreten.

Doch damit nicht genug: Der gegenwärtige Regierungschef José María Aznar rief wenige Stunden nach den Anschlägen bei den Herausgebern der großen spanischen Tageszeitungen an, um sie davon zu überzeugen, dass die ETA-Spur die einzige mögliche sei. Und die Beamten seines Presseamtes taten das Gleiche bei Korrespondenten der wichtigsten europäischen Medien.

Innenminister Angel Ácebes hielt bis zu den Verhaftungen in Madrid an seiner Aussage fest, „keine Zweifel an der Urheberschaft ETAs“ zu haben. In verschiedenen Radiosendern war da schon längst die Rede davon, dass der spanische Geheimdienst CNI zu „99 Prozent von einer islamistischen Täterschaft ausgeht“. Als Ácebes dann um Samstag um 20.10 Uhr endlich vor die Kamera trat und seine Aussagen relativierte, waren überall im Land seit mehr als einer Stunde erneut Menschen auf der Straße. Sie waren per E-Mail und SMS mobilisiert worden. „Mit unseren Toten spielt man nicht!“ und „Wir wollen die Wahrheit, bevor wir wählen gehen!“ riefen sie vor den Parteilokalen der regierenden Partido Popular (PP). Der Spitzenkandidat der PP, Mariano Rajoy, reagierte auf seine Art. Er erhob Klage bei der Wahlkommission. In Spanien sind am Tag vor der Wahl politische Kundgebungen gesetzlich verboten.

Die Verdunklungskampagne nutzte nicht viel. Alle Radiosender berichteten gestern über nichts anderes als über Ácebes und seine seltsame Informationspolitik. Das Gleiche taten die Tageszeitungen. Und selbst das kostenlose hauptstädtische Pendlerblatt 20 Minutos erschien ausnahmsweise auch am gestrigen Sonntag. „Es war al-Qaida“ war auf dem Titelblatt zu lesen. Viele gingen mit Ansteckern gegen den Irakkrieg zur Wahl, die sie in aller Eile wieder ausgegraben hatten.

REINER WANDLER