: „Ein Gebot der Ökonomie“
Im taz-Interview drängt die bildungspolitische Sprecherin und Fraktionsvorsitzende der grünen Landtagsfraktion, Sylvia Löhrmann, auf die Einführung der integrativen Schule in NRW
INTERVIEW: ELMAR KOK
taz: Die NRW-Landesregierung plant die Schule der Zukunft. Nach der Grundschule soll es demnächst nur noch eine weiterführende Schulform geben. Wie soll diese Schule aussehen?
Sylvia Löhrmann: Wir hätten dann am Ort eine integrative Schule, in die alle Kinder gehen. Diese Schule ist wohnortnah und was das Wichtigste ist, sie sorgt für eine Individualisierung der Lernprozesse. Das heißt, jedes Kind bekommt einen individuellen Lernplan und wird auch sehr eng geführt, obwohl wir an diesen Schulen die herkömmliche Form der Leistungsbewertung nicht mehr haben. Trotzdem bekommt jedes Kind laufend eine Rückmeldung, ob es gut oder schlecht arbeitet und wie es bis zum Wochenende oder bis zum Ende des Schuljahres sein individuelles Pensum schaffen kann.
Reicht dafür ein Pädagoge pro Klasse?
Wir haben gesehen, wie das individuelle Lernen in den skandinavischen Ländern abläuft: Dort ist es so, dass die Kinder sehr selbstständig in Gruppen, auch in altersgemischten, arbeiten. So können sie sich gegenseitig helfen. Natürlich müssen die Lehrer als Lernberater da sein. Für Schülergruppen sind dann verschiedene Teams zuständig, die die Kinder fachlich, aber auch sozial unterstützen. Es ist immer jemand da, sollten sie mal allein nicht weiterkommen.
Das klingt nach einer Revolution.
Ja, das ist eine kulturelle Revolution. Daneben aber auch eine sozialpolitische Maßnahme, denn wir dürfen in unserer Gesellschaft niemanden zurücklassen. Zusätzlich ist diese Schulform aber auch ein Gebot der Ökonomie. Denn welche Jugendlichen brauchen wir in 20 Jahren? In unserer Gesellschaft vervielfacht sich das Wissen alle paar Jahre. Daher müssen die Menschen in Zukunft wissen, wie sie sich eigenständig weiterqualifizieren können. Auf diese ökonomischen Zusammenhänge weist ja auch die OECD immer wieder hin.
Wie eigenständig können die Schulen bleiben?
Neben den Bildungszielen, die der Staat und das Land NRW verfolgen, sollten die Schulen die Möglichkeit haben, sich spezifische Ziele zu geben. Dafür wird es Schulprogramme geben, ähnlich denen, die es heute schon gibt. Neben den unterschiedlichen Profilen, die die Schulen entwickeln, wird es wichtig sein, dass es eine Verständigung darüber gibt, was Kinder bis wann auf jeden Fall lernen müssen.
Welche Qualifikation kann ich an der integrativen Schule bis zur 10. Klasse erwerben?
Idealerweise ist es so, dass alle Kinder bis zum Abschluss der Schule einen mittleren Bildungsabschluss erreichen. Idealerweise sollte jeder nach zehn Schuljahren die Schule mit diesem Bildungsabschluss verlassen. Natürlich wird es da auch qualitative Abstufungen geben, allerdings wird viel früher erkannt werden, an welchen Stellen einzelne Schüler noch Probleme haben. Die können dann abgestellt werden, ohne dass jemand eine „Ehrenrunde“ drehen muss. Dafür ist es auch wichtig, dass Lernausgangslagen getestet werden, um nicht einzelne Schüler zu über- andere zu unterfordern. Dazu muss aber auch die Lehrerausbildung geändert werden.
Wann wird diese pädagogische Idee der Regierungskoalition umgesetzt?
Das ist ein Prozess des kulturellen Umdenkens in unserer Gesellschaft. Wir als Grüne müssen zur Kenntnis nehmen, dass es in dieser Legislatur keine Entscheidung mehr dazu geben wird. Aber es ist gut, dass der Ministerpräsident hier eine Entwicklungsoption eröffnet hat, weil er zur Kenntnis nimmt, dass wir mittlerweile in Deutschland völlig isoliert sind. Und ich glaube, dass unsere Ideen zumindest kostenneutral zu realisieren sind. Denn ein fünfgliedriges Schulsystem zu steuern, das verschlingt Summen, die ich lieber dafür verwenden würde, Schulassistenten zu bezahlen, die individuelle Förderprozesse unterstützen.