Danach war Schweigen

Sylvia Plath, Diane Arbus, Ingeborg Bachmann: so begabt wie freitot. Claudia Reinhardt inszeniert deren Selbstmorde und sucht nach der Wahrheit, die ihnen wichtiger war als das Leben selbst

VON PAMELA JAHN

Wenn einem im Traum die Zähne ausfallen, ist damit nicht zu spaßen. Da mag der Laie nur den Kopf schütteln und mit einem faulen Beigeschmack im Mund zur Tagesordnung übergehen. Wer allerdings wie Claudia Reinhardt in einem Kaff mitten in der hessischen Provinz aufgewachsen ist, der schluckt bitter, denn man weiß von Oma, dass nun bald ein Mensch sterben wird, der einem nahe steht. So will es der Aberglaube.

Und so kommt es, wie es kommen muss: Als Claudia Reinhardt eines Morgens im Februar 1999 zähneknirschend aufwacht, muss sie am selben Tag aus der Zeitung erfahren, dass die britische Dramatikerin Sarah Kane Selbstmord begangen hat. Sich erhängte, wie einst ihre Heldin Phädra, befreit aus der Hölle des klaustrophobischen Ich. Für die Fotokünstlerin, die Kanes brutal realistische Theatertexte gerade für sich entdeckt hatte, ein seltsam schwer wiegender Schock. Mit Initialzündung: Wenige Monate später entstand das erste Bild, das Claudia Reinhardt in der Rolle der „Sarah“ zeigt, im Badezimmer über der Kloschüssel baumelnd, exakt in dem Moment, in dem sich der Schnürsenkel um die Kehle der jungen Frau zuzieht. Und das nur zum Eingewöhnen.

Weitere berühmte Selbstmörderinnen folgten: Sylvia Plath, die ihren Kopf in den Gasofen steckte; Diane Arbus, die sich die Pulsadern aufschlitzte; Anne Sexton, die sich in ihren Wagen setzte, in der Garage, und den Motor laufen ließ; Adelheid Duvanel, die Gift nahm und dann in den Wald ging, um dort in einer kalten Sommernacht zu erfrieren; oder Ingeborg Bachmann, die mit glühender Zigarette einschlief – wobei bis heute ungeklärt ist, ob ihr Tod nun Selbstmord oder doch tragischer Unfall war.

Ganze zehn Tode hat die Künstlerin anschließend durchgestanden, als Versuchsanordnung nachgestellt, um zu erfahren, wie es gewesen sein könnte, ohne all zu großes Interesse an dokumentarischer Exaktheit; festgehalten als Hommage an neun außergewöhnlichen Frauenwunder und einen Mann, Pierre Molinier, der sich stilvoll vor dem Spiegel in Maske und Kostüm erschoss, um seinen weiblichen Lüsten und dem Kampf um das richtige Leben im falschen ein Ende zu bereiten. Das Ergebnis dieses kuriosen Unternehmens sind ein Katalog und eine Ausstellung, die derzeit bei Engler & Piper in der Kastanienallee zu sehen ist.

Dass Reinhardts Todesarten-Projekt unter dem Titel „Killing Me Softly“ läuft und der Katalog im hochglänzenden Silberkarton daherkommt, als hielte man die „The Death Issue“ der ID in Händen, macht die Vorurteile hart wie Stahl. Wahrscheinlich noch so eine, könnte man meinen, deren Traum von der Hochglanzfotografenkarriere zerplatzte und die nun munter durch die schöne bunte Film- und Modewelt stolziert, um Bilder über Bilder zu machen. Die sich – bei Cindy Sherman in die Lehre gegangen – gerne prominent in Szene setzt, um das kaputte Treiben der Medien- und Geschlechterkämpfe zu entlarven.

Immer langsam: „Das mit den Songtiteln ist bei mir Methode“, sagt sie und legt einem damit die Frage in den Mund, die schon über Reinhardts früheren Fotostrecken schwebt: „Wie ist die eigentlich drauf?“ Wie muss man drauf sein, wenn man – der künstlerischen Arbeit zuliebe – nicht nur alle denkbaren Suizidmöglichkeiten einmal durchspielt, sondern dabei gleichzeitig die Identitäten berühmter Persönlichkeiten wechselt wie andere Frauen ihren Lippenstift?

Dabei ist Claudia Reinhardt eigentlich gar nicht so. So krass. So schizophren. So lebensmüde. So süchtig nach krankem Glamour. Im Gegenteil: Bezaubernd ist sie; sitzt da in ihrem knallroten Ohrensessel und trinkt Tee; erzählt von ihrer Mädchenclique, dem Traum von der Modefotografie, den entmutigenden Anfängen als Assistentin bei einem Möbelfotografen und davon: wie sie sich schon immer gern selbst vor der Kamera verkleidete und schließlich ganz zur Kunst wechselte.

Eine Frau, so nett und normal, dass man sich sehr gut vorstellen kann, wie wenig sie in den ganzen Fashion-Szene-Zirkus gepasst hat, für den sie heute kaum mehr ein gutes Wort übrig hat. Doch selbst dann redet sie in diesem entwaffnend sympathischen Tonfall, der es schwer macht, ihr überhaupt bohrende Fragen zu stellen. Etwa die, ob ein solches Projekt, zumal als ehrenwerte Huldigung verkauft, nicht doch auch Selbsttherapie ist.

Zumindest die Tatsache, dass ihr ausgerechnet der Selbstmord von Sarah Kane – der Königin der Schmerzen – so sehr zusetzte, macht doch stutzig. Man ist versucht, die Fotos als Psychogramme einer zerrissenen Künstlerseele zu lesen, die ihre Kraft aus den Energien der Selbstzerstörung und des Protests gewinnt, die den Biografien der anderen eingeschrieben sind. Schließlich gab es auch in ihrem Künstlerleben schlechte Zeiten: Etwa als sie, mit Stipendium zwar, aber mit sonst nichts in L. A. hockte, nachdem sie vor ihrem damaligen Freund in Hamburg geflüchtet war. Übermannt von der Einsamkeit, zurückgeworfen auf das eigene unfertige Ich, mitunter depressiv, was man auch ihren Bildern aus dieser Zeit ansieht. Aber das war nur eine Phase. Nicht nur ihre euphorische Art unterscheidet sie von den (Anti-)Heldinnen, die sie jetzt im Todesakt verkörpert. Der heute Vierzigjährigen fehlt die absolute und gnadenlose Verzweiflung einer Kane oder einer Sexton.

Dann kann man es verstehen: Die Bilder zeigen es. Claudia Reinhardt besitzt eine Wandlungsfähigkeit, die einen schaudern macht: dieser stählerne Blick ins Nichts, den ihre „Anne“ braucht, um den Todeswunsch unter der Gaseinwirkung aufrechtzuerhalten. „Diane“ dagegen wirkt geradezu zuversichtlich, die Augen sanft geschlossen, während sich das Blut aus ihren Adern mit dem Badewasser mischt. „Irgendwie hab ich vielleicht ein Talent dazu“, sagt sie, schüchtern wie ein kleines Mädchen, das man auf den Traumberuf anspricht. Keine Frage, Schauspielerin, das soll es im zweiten Leben sein. Das scheint dann doch das Verbindende mit der Kane: dass sie sich in ihrer Arbeit, ihren Rollenspielen nichts erspart, so wie die andere sich und ihren Figuren nichts ersparte auf der Suche nach dem, was Sarah Kane „Wahrheit“ nannte und was ihr in letzter Konsequenz wichtiger schien als das Leben selbst.

Bis 13. 4., Galerie Engler & Piper, Kastanienallee 67, Prenzlauer Berg