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Archiv-Artikel

Zwischen Sein und Sollen

Am 23. Mai können die deutschen Sozialdemokraten ihren 140. Geburtstag feiern. Ein paar Feste wird es gewiss geben – und eine Rede des Parteivorsitzenden. Auch in den Bezirken und Unterbezirken dürfte man einige erhabene Festansprachen hören. Aber allzu überschwänglich wird es wohl nicht zugehen. Denn richtig feierlich ist der SPD derzeit nicht zumute. Man hat andere, aktuelle Sorgen. Und da ist die Geschichte eher sentimentaler Kram von gestern. Dabei könnten die Sozialdemokraten durchaus stolz darauf sein, 140 lange Jahre zu existieren. Denn selbstverständlich ist das keineswegs. Deutschland hat in diesen fast eineinhalb Jahrhunderten mehrere Systemwechsel erlebt, hat weitreichende soziologische und gesellschaftliche Wandlungen erfahren, hat Depressionen und Inflationen erlitten. Insgesamt: Deutschland hat sich in dieser Zeit von einem eher vorindustriellen Land zu einer postindustriellen Gesellschaft entwickelt. Aber das hat die SPD nicht entbehrlich gemacht. In der modernen BWL-Sprache ausgedrückt: Sie hat sich auf dem Markt der Politik im Parteienwettbewerb über 140 Jahre auf der nationalen Ebene nicht nur behauptet, sie ist seit 1998 sogar Marktführer. Keine andere Ware auf irgendeinem Markt in Deutschland kann eine ähnliche Erfolgsstory vorweisen.

Zudem können die Sozialdemokraten eine wirklich pralle Geschichte erzählen. Eben das ist es wohl, warum es die Partei noch gibt. Von Generation zu Generation konnten sie ihre Geschichte weiterfabulieren. Schließlich war es die aufregende Geschichte von großen Konflikten, üblen Verfolgungen, mutigen Frauen und Männern, tragischen Märtyrern, aber auch von verächtlichen Konvertiten. Die Sozialdemokraten hatten also den Stoff für Mythen und Legenden, für das große Epos. Eine Partei mit diesem Stoff löst sich nicht bei den ersten Schwierigkeiten auf. Denn eine Partei, die auf große Auseinandersetzungen und große Anführer zurückblickt, empfindet Geschichte als Erbe und Auftrag. Das kann für die Nachgeborenen zweifellos oft genug Bürde und Last bedeuten. Nimmt man die SPD heute, so ist sie wohl nicht durch eine Überlast an Geschichte gefährdet. Sie hat sich vielmehr in den letzten 10 bis 20 Jahren ziemlich enthistorisiert. Kenntnisse in „Geschichte der Arbeiterbewegung“, die es früher im Funktionärskorps ganz selbstverständlich gab, sind rar geworden. Das hat die SPD gewiss von manchen Starrheiten und Konventionen befreit. Aber es gefährdet sie auch in ihrer Stabilität, wenn es einmal ernst werden sollte.

Die deutschen Sozialdemokraten haben auch deshalb 140 Jahre ausgehalten, weil sie keine simple Interessenpartei waren. Aus der Parlamentsgeschichte kann man lernen: Sind Interessenparteien erfolgreich, dann unterminieren sie die Voraussetzung ihrer Existenz, da sie die Interessen ihrer Klientel letztlich befriedigt haben. Bleibt die Interessenpartei aber ohne Erfolg, dann wendet sich die Klientel ebenfalls ab, um einen neuen politischen Anbieter zu suchen.

Die beiden erfolgreichsten und zählebigsten Parteifamilien sind bezeichnenderweise die sozialdemokratische und die christlich-katholische. Auch sie haben natürlich soziale Interessen vertreten, aber eben nicht nur. Beide Parteien waren daneben auch gleichsam durch Ethos und Weltanschauung geleitet. Typisch für beide war die transzendente Perspektive. Weder Sozialdemokraten noch christliche Katholiken gingen in der Gegenwart auf. Beide waren an einer weiten Zukunft orientiert. Die katholisch-christlich Parteifamilie besaß eine Jenseitsutopie, die Sozialdemokraten hatten ihre Diesseitsvision von einer anderen Gesellschaft. Kurzum: Ihre jeweilige politische Aufgabe war in der vorgegebenen Realität nicht zu lösen.

Insofern lebte die SPD über hundert Jahre in einer für sie ganz typischen, spezifischen Spannung: zwischen der Empirie des politischen Alltags und den Wunschvorstellungen an eine bessere Zukunft, kurz: zwischen Sein und Sollen. Dieser Bezug auf das noch nicht Erreichte aktivierte die Mitglieder; er mobilisierte Leidenschaft, erzeugte Veränderungsimpetus. Und eben darin liegt die signifikante Differenz zu den Traditionalisten und Modernisierern in der Schröder-SPD von heute, die sich von dieser klassisch-genuinen sozialdemokratischen Spannung nicht mehr leiten lassen. Die Traditionalisten haben keine Vorstellung davon, wie es künftig sein soll, sondern wollen nur das verteidigen, was immer schon war. Die Modernisierer wiederum sind Apologeten einer vermeintlich alternativlosen Empirie: Man habe sich an die Wirklichkeit zu halten, nicht am Wünschbaren zu orientieren. So lautet das politische Credo von Schröder bis Clement.

Zugegeben, die wechselnden „Modernisierer“ in der SPD hatten stets einen scharfen Blick für die Schwächen der klassischen Sozialdemokratie. Mit Recht monierten sie stets, dass zwischen dem Alltagshandeln und dem Fernzielpathos der Sozialdemokraten von Bebel bis Schumacher (und all ihrer Epigonen danach) eine strategische Lücke bestand. Sozialdemokratische Empirie und Transzendenz waren nicht konzeptionell miteinander verschränkt, befruchteten einander nicht. Darin hatten die Modernisierer“ zweifellos Recht: Die Rhetorik von der sozialdemokratischen Zukunftsgesellschaft war oft genug die Legitimationsformel, um sich aus den Härten des politischen Diesseits herauszustehlen, war die Entlastungsrede für den chronisch sozialdemokratischen Eskapismus.

Lange fühlten sich die Sozialdemokraten durchaus wohl, obwohl die bürgerlichen und feudalen Gegner sie von der Macht fernhielten. Als ihnen dann 1918 die Macht fast in den Schoß fiel, wussten sie nicht so recht etwas damit anzufangen. Und in den Jahrzehnten danach waren sie oft regelrecht erleichtert, die Macht schnell wieder aus den Händen zu geben, wenn die Probleme sich häuften und die Anhänger jammerten. Dann zogen sich die Sozialdemokraten rasch wieder in ihr Milieu zurück, schmollten die Entwicklung an, die sich ohne sie vollzog, deklamierten wieder das erlösende, fundamentale Endziel.

Dieser Rückzug in die eigenkulturelle Wagenburg geschah oft nicht freiwillig. Häufig genug war er in den ersten 75 Jahren Folge brutaler Verfolgung und Repression. Insofern ist die sozialdemokratische Trostideologie der Langzeitvision durchaus ambivalent zu bewerten. Das alles bot Schutz und Heimat; es spendete Optimismus. So hielten die Sozialdemokraten insgesamt 24 Jahre staatlichen Terrors gegen sich aus, ohne unterzugehen oder auch nur an Zahl weniger zu werden. Sie hatten leiden müssen, aber sie hatten in dieser Zeit an Mitgliedern und Wählern zugenommen. Und so lernten die Sozialdemokraten das Leiden zu lieben. Es verschaffte ihnen ein moralisches Überlegenheitsgefühl gegenüber den „Anderen“, auf das sie sich, bis heute, immer dann zurückbesannen, wenn die Zeiten für sie schlecht waren.

Historisch übrigens war die sozialdemokratische Sonder- und Eigenkultur alles andere als etatistisch. Im Gegenteil, der Staat spielte im Organisationsleben der SPD fast hundert Jahre lang keine große Rolle. Vielmehr kann man das sozialdemokratische Milieu als zivilgesellschaftlichen Experimentierort ansehen, in der Arbeitersportvereine, Wohlfahrtsverbände, Kulturorganisationen die Interessen der Arbeiterschaft selber regelten. Der Sozialstaat war kein Fixpunkt der Sozialdemokraten. Er löste gewissermaßen erst in den 1960er-Jahren die sozialdemokratische Zivilgesellschaft und Selbsthilfebewegung ab. Doch darf man der autonomen, zweifelsohne imposanten sozialdemokratischen Kultur nicht zu sentimental hinterherweinen. Sie war eine Nische, eine abgesonderte Eigenwelt am Rande der Gesellschaft – und zu wenig handelndes Subjekt in der deutschen Staatspolitik und Gesellschaft. Eigentlich ist es fast grotesk, dass sie derzeit das Stigma der etatistischen Traditionstruppe trägt.

Wirklich im Klaren jedenfalls waren sich die Sozialdemokraten über das finale Ziel ihres politischen Tuns wahrscheinlich nie. Es war zwar im sozialdemokratischen Diskurs stets von den großen eigenen Zielen die Rede, aber man hat das nie näher ausgeführt oder gar präzise bestimmt. Es gab keine Bilder, zumindest keine Modelle oder Blaupausen von der Zukunftsgesellschaft. Das war in Teilen gewiss das lange Erbe des Marxismus, der ja keine utopische Schwärmerei sein wollte, sondern strenge Wissenschaft. Und die Schlüsselkategorie dieser vermeintlichen Wissenschaft lautete „Entwicklung“. Kein anderer Begriff hat mindestens vier oder fünf Generationen der SPD-Geschichte so sehr geprägt. Natürlich, auch der feste Glaube an den positiven Lauf der „Entwicklung“ hat dazu beigetragen, dass Sozialdemokraten Krisen und Verfolgungen aushielten. Denn wie übel die Zeiten auch waren, die vorgebliche Wissenschaft des Marxismus gab ihnen die Gewissheit – in der anderen großen Parteifamilie hätte man gesagt: das Gottvertrauen –, dass die „objektive Entwicklung“ der Gesellschaft trotz alledem auf den Sozialismus zulief.

Nun ist der marxistisch inspirierte Endzielfatalismus gewiss aus der Sozialdemokratie verschwunden. Aber die Entwicklungsfixierung hat sichtbar Spuren hinterlassen. Im „Determinismus des Tatsächlichen“, der in den Argumentationsfiguren von Clement und Schröder nahezu dominant auftaucht, erkennt man die nachwirkenden Einflüsse. In der Einrede von den „Alternativlosigkeiten“ in der Politik kehrt der strategielose sozialdemokratische Entwicklungsobjektivismus im neuen Gewande zurück. Man hat der SPD oft vorgeworfen, sie ließe sich von utopischen Vorstellungen treiben. Das genaue Gegenteil ist richtig: Ihnen fehlte es an kreativer Vorstellungskraft für das utopische Bild. Das Farblose ist das Typische für die sozialdemokratische Geschichte, in der meist eine eher eintönige Schwarz-Weiß-Dramaturgie herrschte.

Die sozialdemokratische Arbeiterbewegung war viel zu sehr eine Bewegung von Handwerkern, um zur Utopie fähig zu sein. Es waren solide Menschen, auf kleinbürgerliche Ehrbarkeit und allmählichen Aufstieg aus. Aber die Energie zum plötzlichen Angriff, die Fantasie und den architektonischen Plan für eine neue Gesellschaft besaßen sie nicht. Sozialdemokraten waren keine kreativen Künstler oder kühne Barrikadenkämpfer. Sie waren die nüchternen Experten der Organisation. In 140 Jahren SPD-Geschichte bedeutete sozialdemokratische Politik vor allem sozialdemokratische Organisation. Hier war die Assoziation der Handwerker und Facharbeiter vom Beginn an in ihrem Element. Im Aufbau der frühen Parteiorganisation gingen noch Elemente der alten Zünfte ein, auch in ihrem Kassenbestand, ihren Fahnen, Symbolen und Disziplinvorstellungen. Vieles davon wirkte noch hundert weitere Jahre nach.

In diesen hundert Jahren reproduzierte sich immer wieder die Bedeutungserfahrung der Organisation. In den Jahrzehnten der Hochindustrialisierung war die Mobilität unter den Arbeiterfamilien so groß, dass die SPD nur deshalb weiterleben konnte, weil sie Organisation war – und weil hauptamtliche Funktionäre vor Ort für Konstanz und Kontinuität sorgten. In der Organisation vermittelte sich die Stärke, aber auch das Dilemma der Sozialdemokratie: Sie sorgte für Beständigkeit selbst in Kriegs- und Krisenzeiten. Aber große Organisationen scheuen das Risiko, sind vorwiegend am Selbsterhalt interessiert – nicht an dynamischen Reformen, unübersichtlichen Veränderungen, stürmischen Aktivitäten. So hat die Organisation zu den politischen Ängstlichkeiten und Immobilismen der Partei in zentralen historischen Phasen beigetragen. Doch geht der Organisationspatriotismus der Sozialdemokraten seit zwei bis drei Jahrzehnten sowieso signifikant zurück. Mit der Emanzipation der SPD von der klassischen Facharbeiterklasse hat die Partei auch den Organisationsausdruck der Handwerkerbewegung hinter sich gelassen. Das hat den politischen Raum der SPD neu geöffnet, ihre frühere Verwurzelung aber erheblich geschmälert.

Richtig klar hat sich die SPD nicht gemacht, wie sehr sie sich in den letzten 30 Jahren gewandelt hat. Sie ist in ihrem Kern nicht mehr das, worauf sie hundert Jahre stolz war: die Partei der Arbeiterklasse. Ihr ganzes Selbstbewusstsein zog sie daraus, als politische Repräsentantin derjenigen sozialen Formation zu agieren, die die ökonomischen Werte schuf, also produktiv war – im Gegensatz zur parasitären „bourgeoisen Ausbeuterklasse“. Insofern war die Arbeiterklasse für die Sozialdemokratie Klasse der Zukunft, Subjekt der Emanzipation und Befreiung.

Wahrscheinlich markierten die 1970er-Jahre das Ende der alten Arbeiterbewegung, der klassischen Sozialdemokratie – weil sie nun erfolgreich wurde, ihr großes Jahrzehnt in Europa erlebte. Es war die Zeit, in der die sozialdemokratisch lancierte Bildungsexpansion ihren Höhepunkt erreichte. In diesem Jahrzehnt gingen hunderttausende von Kindern sozialdemokratischer Tischler, Maurer und Bergarbeiter auf das Gymnasium, studierten – und verließen hernach die ehemaligen sozialdemokratisch dominierten Wohnquartiere. Die möglichen Organisatoren des sozialdemokratischen Milieus kehrten dem Milieu den Rücken und liquidierten es dadurch. Die Arbeiterquartiere verwaisten politisch und kulturell. Die Zurückgebliebenen waren nunmehr organisatorisch unbehaust und fühlten sich weder vom Habitus noch vom Stil, aber auch nicht mehr von der Politik der neuen mittelschichtigen Sozialdemokraten vertreten. War in den Weimarer Jahren Volatilität Ausdruck des gewerblichen Bürgertums, ist sie heute das Charakteristikum der Rest-Arbeiterklasse. Arbeiterklasse und Sozialdemokratie, das gehört nicht mehr zusammen.

Und das bereitet der SPD Probleme. Denn sie tut immer noch gerne so, als sei sie die Partei der Arbeiter, der „kleinen Leute“ zumindest. Sie weigert sich, den neuen sozialen Ort ihrer aufgestiegenen Kernanhänger sozial, politisch und kulturell zu definieren, um sich strategisch darüber Rechenschaft abzulegen, wie viel an Solidaritäts- und Reformpotenzial in ihrer selbst geschaffenen neuen Mitte noch steckt. Klar ist: Als Wähler braucht die SPD auch die Unterschichten der deutschen Gesellschaft, wenngleich es die Partei konzeptionell in die Bredouille bringt. Sie kann sie nicht einfach links liegen lassen, obwohl sie sicher keine Klasse der Zukunft mehr sind. Ein solcher Bruch mit den eigenen Ansprüchen wäre zu brachial und vor allem nicht mehrheitsfähig, da man allein mit neuen Mitten in Deutschland nicht über 30 Prozent kommt. Dieses Dilemma ist der Hintergrund für den innersozialdemokratischen Streit im Frühjahr 2003.

Nun gibt es gegen Streit in der SPD nichts zu sagen. Der Streit gehört zur Geschichte der Sozialdemokraten; er ist der Partei gleichsam wesenseigen. Er ist vielleicht der wertvollste Beitrag der SPD zur Einübung der Demokratie im doch lange obrigkeitsstaatlich geprägten Deutschland. Das war von Beginn an so, als bereits Lassalle mit Marx und Bebel stritt. Kontinuierlich folgten weitere harte innerparteiliche Kontroversen. Aber auch der Streit hat am Ende dazu geführt, dass die SPD 140 Jahre überlebte. Denn im Disput reiften die Talente der Partei. Sie mussten ihre Position schärfen, Anhänger sammeln, neue Zusammenhänge stiften, Durchsetzungskraft entwickeln. Ohne Streit schlafft eine Partei ab; sie verliert an Leben, Substanz und eben auch an geeignetem Führungsnachwuchs. Gerd Schröder etwa ist als Politiker nachgerade idealtypisch ein Produkt fortwährender Kämpfe und Rivalitäten. Insofern wird auch der neue, gegenwärtige Zwist um die Politik Schröders die Sozialdemokratie nicht ruinieren. Im Gegenteil: Am Ende eines harten Streits in der SPD wird eine Menge Porzellan zerdeppert sein; der Kanzler wird seine liebe Mühe haben. Doch es werden sich vielleicht neue Gruppen bilden, neue interessante Figuren an die Oberfläche kommen – für die Zeit nach Schröder. Das kann dann abermals die Zukunft der SPD sichern.