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Archiv-Artikel

Der Krieg liegt in einer Schachtel

AUS SCHWELM JAN BRANDT

In der Dreizimmerwohnung von Georg Hartmann hängen viele Drucke an den Wänden, unter anderem von Keith Haring und Pablo Picasso: die amerikanische Nationalflagge mit gelben Männchen davor und eine Variation der Friedenstaube. Nicht in Blauweiß, sondern mit bunten Figuren, die um den Vogel herumzutanzen scheinen. Und auf einer Staffelei steht ein Bild, das Engelskinder zeigt. Es wirkt wie ein Statement, wenn man bedenkt, dass Georg Hartmann sich vor zehn Jahren als Wehrdienst Leistender freiwillig für den Einsatz in Somalia gemeldet hatte.

Damals, im Sommer 1993, war Hartmann gemeinsam mit 1.725 deutschen Soldaten in das vom Bürgerkrieg zerstörte Somalia entsandt worden, um die seit 1991 geführten Kämpfe zwischen verfeindeten Stämmen zu beenden. Im Namen der Vereinten Nationen, zusammen mit 20.000 Blauhelmen aus 29 Ländern. Die SPD, zu jener Zeit noch Oppositionspartei, stellte beim Bundesverfassungsgericht einen Eilantrag, der den Out-of-Area-Einsatz verhindern sollte. Der Antrag wurde abgelehnt, und die Bundeswehr konnte nach Afrika fliegen, um ihren Auftrag zu erfüllen: den Nachschub für 4.700 Inder sichern und das wieder vereinigte Deutschland zurück in die Weltpolitik katapultieren. „Machen wir uns nichts vor“, sagt Georg Hartmann, „dieser Einsatz hat den Stellenwert der Bundeswehr verändert.“

Georg Hartmann ist 33 Jahre alt und wohnt mit seiner Freundin in Schwelm, einer bergigen Kleinstadt zwischen Wuppertal und Hagen. Er trägt ein kariertes Hemd, raucht eine Marlboro und lehnt sich in dem mit einem roten Tuch bespannten Sofa zurück. Auf dem Couchtisch hat er fast alles ausgebreitet, was noch übrig geblieben ist von damals: Briefe, einen Bildband über den „Unterstützungsverband Somalia“ und das blaue Barett der UNO. Stolz präsentiert er die Schätze. Fotos von weißen Lastwagen und Männern in Shorts und Sonnenbrille, die über einen staubigen, sandigen Platz gehen. Es könnte auch irgendwo am Strand sein, wären da nicht die Gewehre, die sie in den Händen halten.

Er setzt sich auf, drückt die Zigarette im Aschenbecher aus und verlässt das Zimmer. „Jetzt bin ich richtig wieder drin“, ruft er und kommt dann mit einem blauen T-Shirt zurück, auf dem der offizielle Titel des Einsatzes steht: „Operation Continue Hope.“ „Das zieh ich nicht mehr an“, sagt Hartmann, „das ist wie ein Heiligtum für mich.“

Er wühlt in einer Kiste und holt ein paar Feldpostbriefe hervor, die den Poststempel vom 3. Oktober 1993 tragen, dem Tag der Deutschen Einheit. „5200 Feldpost“ steht über der Briefmarke. „Da gab es bereits fünfstellige Postleitzahlen“, sagt er. „Für diese Fehldrucke muss man mir schon ziemlich viel Geld geben.“ Dann setzt Hartmann sich wieder, zündet sich eine neue Zigarette an und erzählt vom „Heimaturlaub“, von „Konvois“ und „Weichfahrzeugen“. Und davon, dass er in Belet Huen, dort, wo die Bundeswehrsoldaten stationiert waren, „mit 23 Jahren erwachsen“ geworden ist.

Eigentlich hatte er das Jahr bei der Bundeswehr möglichst schnell hinter sich bringen wollen, aber während der Grundausbildung merkte er, dass die Aufgaben in der Kaserne „ein bisschen einfältig waren, wenig sinnvoll jedenfalls“. Der ganz normale Dienst reizte Hartmann nicht. Die Aussicht, an dem ersten großen Auslandseinsatz der Bundeswehr teilnehmen zu können, war verlockend.

In den Monaten bis zu seinem Abflug durchlief er mehrere Sichtungslehrgänge. Er musste sich in Stresssituationen behaupten und medizinische Tests über sich ergehen lassen. Er wurde an der Waffe ausgebildet und erhielt Nachhilfe in Landeskunde. Fünfundzwanzig Freiwillige meldeten sich aus seiner Einheit, sieben wurden genommen. „Das war ein elitärer Kreis. Da sind viele durchs Raster gefallen.“

Die Vorbereitung sei sehr theoretisch gewesen, sagt er, er habe nicht genau gewusst, was ihn erwartete. Als dann der Einsatzbefehl kam, empfand er es als Erlösung. Seine Großmutter verabschiedete ihn mit den Worten: „Jetzt ziehst du in den Krieg.“ So wie ihr Mann 1940 in den Krieg gezogen und erst Jahre später aus französischer Gefangenschaft zurückgekehrt war.

Am 21. Juli 1993 ging es für den Hauptgefreiten Georg Hartmann vom Militärflughafen Köln-Wahn nach Dschibuti und von dort nach Mogadischu. Im Hafen nahmen sie die Transporter entgegen und fuhren dann auf Straßen voller Schlaglöcher ins 383 Kilometer entfernte Belet Huen. Hartmann gehörte als Transportsoldat zum ersten Kontingent.

Seine Aufgabe bestand darin, mit Sattelschleppern Lebensmittel in Kühlcontainern einmal pro Woche von der Hauptstadt ins deutsche Lager zu bringen. Eskortiert wurde der Konvoi dabei von italienischen Panzern und US-Hubschraubern. Wenn er keine Transporte fuhr, arbeitete er in der Marketenderei und verkaufte Gummibärchen, Einwegrasierer oder Rei in der Tube.

Im August waren sie einsatzbereit. Die Inder, deren Nachschub sie sichern sollten, konnten kommen. Aber die Inder blieben zu Hause. Und die Deutschen kümmerten sich um die Zivilbevölkerung. Sie setzten Brücken und Straßen instand, verbesserten die Trinkwasserversorgung und bauten Schulen und Krankenhäuser wieder auf. Die Not der Menschen sollte gelindert werden. Aber eine langfristige politische Perspektive gab es nicht. Und so erschien der Einsatz als eine Art karitatives Manöver unter verschärften Bedingungen.

Schießen durften die Deutschen nur, wenn sie angegriffen wurden. Kam es in Belet Huen zu Kämpfen zwischen den Klans, mussten die 500 italienischen Soldaten, die zum Schutz der Deutschen in der Stadt stationiert waren, eingreifen. Manchmal, sagt Hartmann, habe er nachts in Mogadischu oder Belet Huen Lichtblitze am Himmel gesehen. Zuerst habe er die Granaten für Feuerwerkskörper gehalten. „Man sah sich das an wie im Fernsehen – distanziert und unbeteiligt.“ Die ersten Wochen hatte er noch das Gefühl, an einem sinnvollen Einsatz beteiligt zu sein. Aber als das Mandat nicht verlängert wurde, bekam Hartmann Zweifel. „Es fehlte die Konsequenz.“

Am 14. November 1993 flog er zurück nach Deutschland. Hartmann bekam die Ehrenmedaille der Bundeswehr „für die beispielhafte Erfüllung der Soldatenpflicht“ verliehen und eine UN-Medaille, „die jeder bekommt, der keinen goldenen Kugelschreiber klaut und länger als 90 Tage dabei war“, wie er sagt. Er hätte bei der Bundeswehr bleiben können, aber es habe ihm „keinen Spaß mehr gemacht“.

Hartmann hat nicht miterlebt, wie in Belet Huen, ein junger Somali starb, der in der Nacht zum 21. Januar 1994 in das Lager eingedrungen war. Nach einigen Warnschüssen versuchte der wachhabende deutsche Blauhelmsoldat, dem Mann ins Bein zu schießen. Im Dunkeln. Aus 130 Meter Entfernung. Er traf den Somali tödlich. Die Meldung und die Bilder, die im Stern erschienen, verstörten Hartmann. Auch wenn er sagt, er hätte in der Situation genauso gehandelt.

Je mehr Übergriffe es gab, desto mehr habe er sich missverstanden gefühlt. Die Hemmschwelle, sich gegen die Attacken zur Wehr zu setzen, sei niedriger geworden: „Ich merkte, dass mich das allmählich aggressiv machte. Deshalb war es gut, dass ich vorzeitig nach Haus gekommen bin.“

Am 23. März 1994 verließen die letzten deutschen Soldaten Somalia. 310 Millionen Mark hat die Bundesregierung der Einsatz damals gekostet. Die nächsten Einsätze der Bundeswehr – in Bosnien, im Kosovo und in Afghanistan – erlebte Georg Hartmann wie die meisten Deutschen als Fernsehzuschauer. Nach Ablauf seiner Dienstzeit setzte er sein Leben an dem Punkt fort, an dem er es für seinen Einsatz in Afrika unterbrochen hatte. So als hätte es das halbe Jahr nicht gegeben. Er renovierte eine Wohnung in seinem Elternhaus seiner Eltern und wurde von seinem ehemaligen Lehrbetrieb als Automobilkaufmann übernommen.

Ein paarmal hat er sich noch mit 19 Kollegen im westfälischen Dülmen getroffen. Dann haben sie im Mannschaftsraum der St.-Barbara-Kaserne zusammengesessen und über die Zeit in Somalia gesprochen. „Wie das oft so ist im Leben“, sagt Georg Hartmann, „sind nur die guten Dinge haften geblieben, die Überfälle waren kein Thema mehr.“ Irgendwann haben sich die jungen Veteranen aus den Augen verloren. Das letzte Treffen fand 1999 statt.

Was hat sich verändert? Welche Spuren hat der Einsatz hinterlassen? „Das hat mich vorangebracht“, sagt Georg Hartmann und schaut nachdenklich aus dem Fenster in den Innenhof. „Menschlich“, sagt er. „Ich bin bescheidener geworden. Ich weiß jetzt, was es heißt, arm zu sein.“ In den letzten zehn Jahren hat er Geld gespart. Bald will er sich ein Haus kaufen. Aber erst mal fährt er am Wochenende mit seiner Freundin nach Hamburg. Um ihr dort einen Heiratsantrag zu machen. Er schaut endlich nach vorn. Somalia, das war vor zehn Jahren.