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Archiv-Artikel

Gut im Futter

Überleben in Wald, Wiese und Wirtschaftskrise? Der Besuch in einer Wildnisschule zeigt, wie das auch ohne Picknickkorb geht. Denn am Ende dreht sich doch immer alles ums Essen

IN DER WILDNIS LERNEN

Die Schule: Die Wildnisschule Wildeshausen veranstaltet seit zehn Jahren Kurse für Kinder und Erwachsene. Auch Kräuterkunde, Visionssuchen und Firmentrainings werden angeboten. Kosten und Dauer: Die Seminare dauern zwischen einem und zwölf Tagen und kosten zwischen 40 und rund 2.000 Euro. Geleitet werden die Kurse zum Beispiel von Biologen, Geografen oder Landschaftsökologen. Das Ziel: Erwachsene sollen lernen, eine Verbindung zur Natur herzustellen und sich an ihre „uralten Instinkte“ zu erinnern. Bei den Kursen für Kinder steht nicht nur das Überleben, sondern das Erleben im Mittelpunkt: Die Teilnehmer sollen soziale Kompetenzen und das eigene Selbstvertrauen stärken. Der Link: www.wildnisschule.de GLOSSAR Hexenei: Bevor der ungiftige Pilz namens Stinkmorchel ausgewachsen ist, bildet er eine Knolle, aus der später der Stiel mit dem Hut wächst. Diese Knolle nennt man Hexenei. Spitzwegerich: Die Krautpflanze blüht zwischen Mai und September. Sie soll auch eine medizinische Wirkung haben: Zum Beispiel enthält sie Gerbstoffe, die entzündete Schleimhäute abschwellen lässt. Vogelmiere: Die Vogelmiere gilt als Unkraut und Heilpflanze gleichzeitig. Verwendung findet die in Tees und Aufgüssen. Schafgarbenblätter: Angeblich hat schon der griechische Held Achilles seine Wunden mit Schafgarbe behandelt. Sie soll entzündungshemmend sein, kann aber allergische Reaktionen auslösen.

VON JAN KÜHNEMUND

Wir verlassen die Autobahn hinter Bremen, fahren ein paar Kilometer Richtung Wildeshausen und biegen nach links ab, auf eine holprige, kaum befahrene Straße. Erst säumt Vieh den Weg, später dunkler Nadelwald. Die Welt um uns herum wird ruhiger. Ein verbeultes Schild am Wegesrand weist darauf hin, dass militärisches Gefährt die Straße kreuzen könnte. Es ist Freitagmittag. Hier also wollen wir unser Wochenende verbringen? Mir kommen Zweifel.

Dabei lag es nah: Die schlechten Wirtschaftsnachrichten häufen sich in den letzten Monaten, selbst das Geld der Menschen, die eigentlich gar keines besitzen, beginnt langsam vor sich hin zu kokeln. Da schien der Kurs „Essbare Wildnis“ der Wildnisschule Wildeshausen plausibel. Nach einer guten Vorbereitung auf den endgültigen Zusammenbruch. Zum Wohl zukünftiger Generationen packte ich meinen dreijährigen Sohn ins Auto und wir machten uns auf den Weg.

Wir steuern eine Lichtung am Wegesrand an, ein kleines Grüppchen steht schon zusammen. Ich parke ein bisschen weiter hinten, wie die meisten. Es ist ein bisschen unangenehm, hier mit dem Auto vorzufahren. Manche gleichen noch nervös ihr Gepäck mit der Materialliste ab. Ich stelle mich vor, die anderen kennen sich schon. Für sie ist es der dritte Teil einer Weiterbildung, das erste Mal sind sie draußen. Jakob aus Bremen ist da, er ist Waldkindergärtner und hat seinen zweijährigen Sohn Anton dabei. Eva ist Zimmerin und studiert Pädagogik, Margot arbeitet seit dreißig Jahren in der Jugendhilfe. Hajo macht Kommunikationstraining in Unternehmen, Georg ist Fahrlehrer bei der Bundeswehr, bald geht er in Rente. Ein buntes Dutzend hat sich hier versammelt.

Zwei Frauen marschieren auf zu uns und begrüßen uns knapp. Sie stellen sich als Judith Wilhelm und Myriam Kentrup vor und winken uns hinter sich her, „in unser Klassenzimmer“. Zu Fuß geht es durch den Wald, nur ein paar hundert Meter. Dann lichtet sich das Geäst und wir stehen mitten in der Wildnisschule. Und die ist gar nicht so strukturschwach, wie ich sie mir vorgestellt habe. Ein großes Backsteinhaus steht da. Hier sind die Küche, ein paar Tagungsräume und die Toiletten. „Heute Abend und morgen Früh bekommen wir noch Essen aus dem Haus“, erklärt Judith, „danach hat die Köchin Urlaub.“ Sie kichert, mir wird mulmig.

Unsere Wildnis ist ein unüberschaubares Gelände aus sandigen Hügeln, Wiesen und Wald, im Westen fließt die schmale Delme am Waldrand entlang. Auf den ersten Blick wirkt die Umgebung nicht unbedingt appetitanregend. Direkt vor uns erhebt sich ein riesiges Stoffzelt, mein Sohn erkennt es als Tipi. Um eine Feuerstelle sind knöchelhohe Holzbänke zum Kreis aufgestellt. Wir setzen uns. Was wir denn erwarteten, werden wir gefragt. So wird das an diesem Wochenende häufiger sein. Bevor eine der beiden Pädagoginnen erläutert, vermittelt, hilft, können wir unsere eigenen Antworten und Lösungen finden.

Unsere Erwartungen also: Einige sprechen von ihrer Angst vor dem wirtschaftlichen Fiasko, von der Erwartung, sich in einer Krisensituation selbst versorgen zu können. Und von der Hoffnung, das Wissen um Versorgungsmöglichkeiten möge ihnen Sicherheit geben. Sie scheinen eine ähnlich naive Vorstellung zu haben wie ich. Die nämlich, notfalls auf Subsistenzwirtschaft umsteigen zu können. Daneben wird auch der Wunsch nach neuen beruflichen Impulsen geäußert, es sei ja schließlich eine Fortbildung.

Um subsistenzielles Wirtschaften ginge es der Wildnisschule weniger, erläutern Myriam und Judith. Viel eher darum, altes Wissen über die Natur in unsere modernen Leben zu bringen. Sie sprechen über vernetztes, prozessorientiertes und kreatives Denken, dass wir am effektivsten in der Natur lernen könnten.

Am Abend sitzen wir am Feuer und reden, lachen, singen. Ich schlafe schließlich mit meinem Sohn und sieben anderen in einem großen Tipi.

Beim Frühstück am heimeligen Feuer formulieren wir Minimalziele: Am Abend solle es Fisch geben und einen Salat, und ein Sonntagsfrühstück ohne Kaffee, Marmelade komme gar nicht in Frage. Etwas ratlos starren wir in die Gegend. Hier also wächst unser Abendessen? Und unser Buffet? Puh.

Judith und Myriam begleiten uns auf einen ersten Rundgang durch Wald und Wiese. Alle paar Meter jauchzen sie auf und pflücken etwas, ein Kraut, eine Beere, einen Pilz. Die beiden Kinder folgen schnell ihrem Beispiel und stecken sich alles in den Mund, kauen auf Schafgarbenblättern, Vogelmiere und Spitzwegerich. Auch ich probiere die Kräuter. Und plötzlich ist der Eindruck von Kargheit dem einer ungeheuren Fülle gewichen. Bis zum Mittag folgen wir den beiden, vergleichen Geschmäcker, diskutieren, lernen.

Ganz vergessen sind die Ängste dadurch nicht. Als Anton sich einen knolligen Pilz einverleiben möchte, entfährt Jakob ein „Nein!“, und er entreißt ihm ein weißes Kügelchen. „Kein Problem“, beschwichtigt Myriam, „bei Pilzen ist es schon gut, genau hinzuschauen.“ Dieses Hexenei sei genießbar, am besten brate man es in dünnen Scheiben.

Später teilen wir uns auf, jeder bekommt eine Aufgabe. Eva will Kräuterfrischkäse zubereiten, alles, was ihr zur Verfügung steht, sind ein paar Liter Milch vom Bauern. Hajo und Georg „gehen eine Kaffeeplantage suchen“, Jakob und ich kümmern uns mit den beiden Kindern um die Frühstückseier. Den ganzen Nachmittag kriechen wir durchs Unterholz, tapsen gebückt Wegesränder entlang und knien in feuchten Wiesen. Dass wir hier für unser eigenes Essen unterwegs sind, stimmt uns euphorisch.

Abends tragen wir unsere Beute zusammen: Es gibt ein Kaninchen, Forellen und Gemüse aus dem Erdofen, Hexeneier, einen riesigen Salat, Käse, selbst gebackenes Brot. Alle erzählen, wie ihr Beitrag zum Buffet entstanden sei. Eva berichtet mit leuchtenden Augen, wie sie die Milch auf dem Feuer erwärmt und mit Vogelbeerensaft gesäuert habe. Und wie sie Brennnesselsamen sammelte und in den Käse rührte. Alle stimmen zu, dass ihr Käse frischer schmecke als jeder Kräuterfrischkäse aus der Kühltruhe. Wer das Tier erlegt habe, wird gefragt. Das sei gekauft, denn Jagen dürfe man hier nicht. Aber ausgenommen und zubereitet hätten wir es selbst. Wir sind pappsatt.

Als er sich vorbereitet habe, erzählt Jakob später, sei er sicher gewesen, geschmackliche Entbehrungen erleiden zu müssen. Nun aber sei ihm aufgefallen, dass das Gegenteil der Fall sei. Und wirklich: Vieles schmeckt neu und unerwartet, manches fordert unsere konditionierten Gaumen heraus. Erst muss man sich überwinden, dann beginnt man seine leicht nussige Bitterkeit im Salat zu schätzen. Das größere Problem hier draußen ist ein anderes: Man hat den ganzen Tag damit zu tun, seine Nahrung zu organisieren. „Die Zivilisation schmeckt gar nicht unbedingt gut, sie lässt uns aber ungeheuer viel Zeit, in der wir uns nicht ums Essen kümmern müssen“, sagt Jakob.

Und wir müssen uns weiter kümmern: Den ganzen Tag lang haben wir an einem Ofen für die Frühstückseier gebaut. Ein Loch gebuddelt, es mit Lehm ausgekleidet, es fünfzehn Stunden lang ausgebrannt, um es wasserdicht zu machen. Wir haben Weidenkörbchen geflochten, in denen die Eier gekocht werden sollen. Am Sonntag bringen wir vier große Steine zum Glühen und legen sie in das Wasserloch. Bald kocht das Wasser, wir halten das Weidenkörbchen mit zwanzig Eiern hinein und warten. Nach einer halben Stunde nehmen wir sie raus – sie sind perfekt. Hajo und Georg waren bis jetzt mit dem Kaffee zugange. Sie haben Löwenzahnwurzeln ausgegraben, sie gewaschen und zerschnitten. Nun sind die Wurzeln endlich so trocken, dass sie sie rösten und zerstoßen können. Sie brühen uns einen Löwenzahnkaffee auf. Der schmeckt zwar nur so ähnlich wie Kaffee, aber gar nicht schlecht. Brot gibt es zum Frühstück, den Frischkäse und auch, überraschend, Traubenkirschenmarmelade.

Gegen Mittag verabschieden wir uns voneinander. Alle haben das Gefühl, Ungeheures entdeckt zu haben an diesem Wochenende. Dabei haben wir doch nur zusammen gekocht. Als ich am Montagfrüh beim Bäcker stehe und Brötchen kaufe, muss ich lachen.