Macht es größer

Cannes Cannes (VII): Auf dem Festival häufen sich Filme, in denen Blut und andere Körpersäfte eine nicht unerhebliche Rolle spielen. Auch Michael Hanekes „Wolfszeit“ ist eine Nacht der lebenden Toten

von CRISTINA NORD

Beim Empfang in den Hallen des Marché Forville spricht die Staatsministerin Weiss vom neuen Selbstbewusstsein des deutschen Films. Kein Grund zur Scham sei es, dass Deutschland im Wettbewerb nur als Koproduzent vertreten sei, und, ja, die Novelle des Filmfördergesetzes werde Schwung in den deutschen Film bringen. Branchenvertreter nehmen Longdrinks zu sich, und auf Bildschirmen laufen Ausschnitte aus Caroline Links „Nirgendwo in Afrika“ und Yüksel Yavuz’ „Kleine Freiheit“, einem Beitrag zur diesjährigen Quinzaine des Realisateurs.

Es ist an der Zeit, von den unappetitlichen Seiten dieses Festivals zu berichten. In den letzten Tagen häuften sich die Filme, in denen Blut und andere Körpersäfte keine unerhebliche Rolle spielen. Der Trend begann mit Hector Babencos Gefängnisfilm „Carandiru“, den in seiner vollen Länge von zweieinhalb Stunden nur die Tapferen hinnahmen. Ich zählte nicht dazu.

In der Vergangenheit ist dem brasilianischen Regisseur ein Gefängnisfilm geglückt: „Der Kuss der Spinnenfrau“. Doch das ist fast 20 Jahre her. Bei „Carandiru“ ließ Babenco seinen Darstellern alles durchgehen, was das lateinamerikanische Overacting zu bieten hat. Die Tunten sind extra tuntig, die Machos extra viril, jedes Gespräch geht rasch in Geschrei über. „Macht es größer“, muss Babenco den Akteuren zugerufen haben, „ich will es größer!“ An flachen Witzen herrscht kein Mangel, auch nicht an Szenen, die an die Ekelgrenzen des Zuschauers gehen. Einer hustet Blut, ein anderer trinkt es; wieder ein anderer, der Drogendealer des Gefängnisses, will seine Ware via Toilette verschicken und wird von einer Ratte gebissen. Nun wird die Wunde genäht. Dabei sieht man jeden Stich.

Blutig ist auch der französische Wettbewerbsbeitrag „Tiresia“. Bertrand Bonello hat die griechische Mythologie brav gelernt: Teresias ist der Seher, der unter anderem Antigone ihr Schicksal vorhersagt. Er ist blind, und er lebt zunächst als Mann, später als Frau, noch später wieder als Mann. Das nimmt Bonello zum Anlass, sich unter brasilianischen Transsexuellen umzuschauen und am Autostrich lange Reihen von Silikonbrüsten zu filmen. Die Hauptfigur, Tiresia, darf sich in ihrer ganzen Schönheit zeigen: mit Brüsten und Schwanz. Das wäre ein starker Moment, müsste die Figur nicht anschließend über ihre Hässlichkeit klagen. Und weil das Publikum Schocks braucht, werden Tiresia die Augen ausgestochen. Die leeren, blutigen Augenhöhlen sind im flackernden Licht der anschließenden Einstellungen gerade noch gut zu erkennen.

Nun ist es ja durchaus nicht so, dass Filme ohne Gewalt oder Blut auskommen sollen. Nur stellt sich, je näher ein Film den Ekelgrenzen kommt, umso drängender die Frage, warum und wie er es tut. Weil es verwegen aussieht? Weil es als Provokation zelebriert wird? Weil man – als sei nicht auch das schon eine Konstruktion – an jenen Naturzustand heranzukommen meint, der unter dem Firnis der Zivilisation liegt?

Gespannt sein durfte man auf Michael Hanekes „Wolfszeit“. Es braucht nicht viel, so will es dieser Film, und im Hier und Heute wird der Mensch dem Menschen zum Wolf. Haneke fängt gut an: Einstellungen im Halbdunkel, die trotz des Lichtmangels präzise bleiben, die Reglosigkeit im Gesicht Annas (Isabelle Huppert), als ihr Mann erschossen wird, die Einsamkeit der Figuren im nächtlichen Wald oder im Nebel eines verlassenen Dorfes. Den Wald inszeniert „Wolfszeit“ als Gefängnis, die Baumstämme bilden die Gitterstäbe. Doch die visuelle Souveränität leidet an der bekannten Geschichte: Man hat sie zu oft gesehen, die Dynamiken, die in einer Menschengruppe vor dem Hintergrund diffuser Bedrohung entstehen, die Selbstzerfleischung im isolierten Raum. Das Zwielicht kann nichts daran ändern, dass Hanekes „Wolfszeit“ eine Nacht der lebenden Toten ist. Nur die Zombies fehlen.