: „Das verflüssigt Marx“
Der Filmemacher Alexander Kluge hat seinen neunstündigen Filmessay über Karl Marx für das Hamburger Kino Abaton auf 90 Minuten zusammengefasst. Ein Gespräch über Sergej Eisenstein als gescheiterten Vorläufer, das Kapital als Ich-Erzähler und das bemerkenswerte Jahr 1929
ALEXANDER KLUGE, 76, ist Rechtsanwalt, Filmemacher, Fernsehproduzent, Schriftsteller und Drehbuchautor. Die von ihm gegründete Firma dctp produziert Kulturmagazine fürs Privatfernsehen, unter anderem für RTL. FOTO: SCHMEKEN/DCTP
AUFZEICHNUNG DANIEL WIESE
taz: Herr Kluge, das ist ja schön, dass Sie mit der Kurzfassung Ihres „Kapital“-Projekts nach Hamburg kommen.
Alexander Kluge: Das ist keine Kurzfassung. Wir haben folgende Theorie: Man muss alles, was einem am Herzen liegt, künftig für online machen, da ist es eine Minute lang. Bei DVD kann es bis zu zehn Stunden lang sein. Und im Kino sind es 90 Minuten, eine Urinlänge.
Und wie lang ist die DVD? Manche sagen, zehn Stunden, manche neun.
Neun, also 580 Minuten genau.
Das „Kapital“ ist auch sehr lang.
Ja, und Eisenstein hatte ja vor, das „Kapital“ nach dem Vorbild von „Ulysses“ von James Joyce zu verfilmen, und das ist auch ein langes Buch. Die einzelnen Stücke auf der DVD sind ja ganz kurz. Tom Tykwer hat einen wunderbaren Film gemacht von zwölf Minuten, das ist das Beste von dem Ganzen. Dann sind die meisten Stücke zwei bis fünf Minuten. Und dazwischen ist dann auch gründliche Theorie, also Sloterdijk kann man nicht unter 45 Minuten, Oscar Negt auch nicht, Dietmar Dath auch nicht.
Was passiert dann eigentlich in der Kinofassung?
Da fallen die großen Interviews raus außer einem, nämlich dem Enzensberger, den wir aber gekürzt haben. Der ist ja 1929 geboren, und der Film geht ja davon aus, dass Eisenstein 1929 gedreht hätte, und das ist der Zeitpunkt des Schwarzen Freitag. Wir haben den Film genannt: „Nachrichten aus der ideologischen Antike“, weil wir dachten, es ist ein zurückliegender Bericht von 1929, und Marx ist geboren 1818, also aus älteren Zeiten, der ist schon unter die Sterne versetzt.
Ja, und dann kommt die Finanzkrise.
Wobei Marx dazu nur sehr Allgemeines sagt. Er hat ja sehr günstige Worte für das Produktionskapital, das würde er sehr bewundern. Also das Quartier St. Antoine, die Handwerker von Paris, da würde er sagen, das ist positiv, das ist revolutionär. Das Finanzkapital ist britisch, das fängt mit Sklavenhandel an, das geht am schnellsten. Das verteufelt er sehr stark.
Früher Sklaven, jetzt Immobilien.
Absolut. Und ich muss sagen, wenn Menschen in Amerika ihr Haus einfach im Stich lassen, so wie 1939 in „Früchte des Zorns“, wenn sie alles auf Lastwagen laden und wegfahren, ohne Hinterlassung einer Adresse, also Flucht aus dem Eigentum, dann ist das schon eine Metapher, die mich sehr bewegt. Weil die Hypotheken so schwer sind, obwohl sie eigentlich irreal sind, dass sie so ein Eigentum wegdrücken, die Menschen verjagen. Er würde auch sagen, wenn die Produktion im Kapitalismus platzt, und stärkere Absatzwünsche hat, als Menschen irgendwas konsumieren können, dann gibt es eben die Bewegung nach rechts, dann holt sich das Kapital ältere, barbarische Kräfte oder die Wiederherstellung der Religionen.
Wird der Kapitalismus zusammenbrechen?
Wird er nicht. Wenn Sie Marx aufmerksam lesen, stellen Sie fest, dass er eine hohe Achtung hat. Die Teile, die er über den Zusammenbruch des Ganzen erzählt, sind ganz kurz und ganz knapp und stehen nicht im „Kapital“.
Im dritten Band gibt es den „tendenziellen Fall der Profitrate“.
Das ist das einzige Mal, wo er die Vorhersage macht, dass das Kapital sich automatisch selbst abschafft. Tut es aber nicht, denn dann fängt es auf einer einfachen Stufe wieder an. Ich habe als junger Mensch, mit 13 Jahren, das Jahr 1946 erlebt. Und ich muss sagen, da ist ja kein Kapital, und da ist einen Moment lang auch keine Staatsherrschaft, und wie da aus uns heraus, aus den Müttern, aus den älteren Geschwistern, das Ganze in Gang kommt als Naturalwirtschaft, das ist imponierend und zeigt, dass wir längst den Turm von Babel und die Tauschgesellschaft in uns haben.
Wollte Eisenstein das „Kapital“ wirklich nach dem Vorbild des Ulysses verfilmen?
Ja, das sollten so wie bei Richard Wagner fünf Abende werden, ein recht langer Film. Und der hat auch den Joyce in Paris besucht, und zwar zwei Wochen nach dem Schwarzen Freitag, und da haben sie ausgeheckt, was sie zusammen machen. Wenn da irgendein Geld vorhanden gewesen wäre, wäre das ein Film geworden. Aber das Zentralkomitee hatte Schiss, Trotzki war gerade im Ausland und Hollywood hat es nicht bezahlen wollen, die haben es auch gar nicht verstanden. Nun hat Eisenstein dabei aber eine Menge Gedanken entwickelt, wie man Filme überhaupt machen soll: Man soll keine lineare Handlung machen, es sind Kommentarwerke.
Da klingt ja ganz nach Ihnen!
Wenn mir etwas gefällt, dann sind das seine Vorsätze. Das ist deswegen zehn Stunden lang, weil so viele da mitarbeiten, da muss man ja die ganzen Töne unterbringen. Der Durs Grünbein erläutert das Kommunistische Manifest in der Hexameter-Version von Bert Brecht, also kürzer als elf Minuten kann ich das nicht machen. Aber es klingt gut, und über Telefon ist das sehr komisch. Und wenn Sie den Sloterdijk haben, der wirklich erzählen kann, der erzählt über den Warenfetisch: Alle Dinge sind verzauberte Menschen, das heißt Menschen stecken das Beste in die Produktion, da vergegenständlichen sie sich, und eigentlich könnte ein Mensch des anderen Spiegel sein, wenn er erkennen würde, dass alle Dinge von ihnen gemacht sind. Aber das ist im Grunde nicht richtig möglich.
Das ist die systematische Täuschung, von der Marx spricht.
Das ist eigentlich der Kern von ihm, das ist das stärkste Bild, das er hat.
Und deswegen wird das Glitzern der Warenwelt leider nie nachlassen. Obwohl, es ist ja auch schön, wenn es glitzert.
Es ist schön, wenn es glitzert, das sage ich ganz ehrlich. Wenn das Glitzern weg ist, sehnen Sie sich danach. Ich kann mir unter dem sozialistischen Menschen schon etwas vorstellen, aber das wäre eine Steigerung des bürgerlichen Menschen – der ohne seine Zwänge.
Gibt es keine Hoffnung für die befreiten Produktivkräfte, die einfach angeeignet wären?
Ich bin mir ganz sicher. Hier gibt es eine Filmsequenz, da haben die trotzkistischen Genossen 1929, eine Woche nach dem Schwarzen Freitag, gesagt: Wir haben im Ural Smaragdvorkommen. Sie haben güterzügeweise solche Waren an die Grenze gestellt, die sollten rüber bis New York, und wenn General Electrics in der vorigen Woche noch 535 Dollar die Aktie kostete und jetzt 35 Cents, dann können die Werktätigen eigentlich das Kapital kaufen. Denn die Kapitalisten verkaufen ja noch den Strick, an dem sie gehängt werden, heißt es. Das haben sie aber nicht gemacht, und die Trotzkisten waren inzwischen auch in der Minderheit in Moskau, und den Mut, den die Russen 1945 hatten, als sie bis Berlin gefahren sind, den hatten sie 1929 nicht. Da gehört viel Selbstbewusstsein dazu und eine Bestätigung in der Öffentlichkeit, dass so etwas möglich ist. Die Chinesen können heute ja so was kaufen.
Vielleicht tun sie es ja. Aber wäre das die Befreiung der Produktivkräfte?
Gar nicht. Das ist ja alles Distribution. Aber interessant ist, wie wacklig der ganze Überbau ist. Als Gefühl muss man sich das mal vorstellen, dass zumindest Genossen so eine Idee mal hatten.
In Ihrem Marx-Projekt spielt auch Helge Schneider mit.
Der macht drei Rollen, einmal als Stahlarbeiter, der jetzt aber Hartz IV hat, und der abends immer um 17 Uhr in die Volkshochschule geht und im zweiten Bildungsweg Marx-Kurse belegt hat, aber die Fabrik ist leider weg. Und er reflektiert darüber, wie alt er im Verhältnis zu Heesters, Marx und so ist. Der ist ja ein sehr kluger Mann, der Helge Schneider. Und zweitens, nachdem er in dem Film von Dani Levi doch den Hitler gegeben hat, ist er jetzt gefragt worden, ob er Marx-Darsteller werden will.
Hat er dann auch Bart?
Er hat Bart, aber den kann man abnehmen, den kann man als Toupet tragen, aber er spielt mit dem Bart und erzählt, wie er das anlegen würde in Erinnerung an die Marx-Brothers. Und drittens ist er noch als Komponist tätig und spielt vor, wie er diesem Film von Eisenstein begleiten würde. Das Wesentliche sind diese verschiedenartigen Töne, also Oskar Negt spricht sehr ernst, Enzensberger ist befangen, weil es ist sein Jahr, und da ist eben der Schwarze Freitag und auch andere unheimliche Dinge, und das bewegt ihn, weil es sein Geburtsjahr ist. Habermas, Enzensberger, Günter Gauss und Heiner Müller: alle Jahrgang 1929. Und wenn Sie so einen Marx-Satz nehmen wie: Die Industrie ist das aufgeschlagene Buch der menschlichen Wesenskräfte, wenn Sie das hören mit Musik von Verdi aus den „Räubern“, dann kriegt das ebenfalls eine andere Temperatur, mehr den Charakter einer Schulpause als einer Schulungsstunde. Die Musik tickt einfach in einer anderen Hirnhälfte, und das tut dem Marx sehr gut, das verflüssigt ihn.
Das ist Teil das Projekts?
Ja, und Dietmar Dath spielt eine große Rolle, und wenn der so ganz klar erzählt, wie das Kapital sich erklären würde, wenn es sprechen und „ich“ sagen könnte. Das ist der wesentliche Inhalt des „Kapital“. Das Buch, das wir gerne hätten von Marx, wäre: Die politische Ökonomie der Arbeitskraft, die politische Ökonomie der Revolutionen, und so weiter. Das hat er ja nicht geschrieben. Dass man dafür einen Sinn hätte, das sich das noch einmal öffnen könnte.
Marx ist ja gar nicht so festgelegt wie der Marxismus.
Nimmt man ihn als Poeten, was man mit den Augen Eisensteins ja machen darf, dann kriegt er einen Charakter, und er hat ja aufgeschrieben, was man alles verfilmen soll: Die Börse soll man verfilmen in Form der Conciergen in Paris, die Staatsanleihen in Russland vor 1914 gekauft haben. Und jetzt zahlt die Sowjetunion nicht zurück, also ist der Kommunismus erledigt. Deswegen ist das so lang.
Dass es lang werden muss, ist klar. Aber wie kann es kurz werden?
Da wird erst mal so zehn Minuten lang vorgestellt, was Eisenstein wollte. Und die Oksana Bulgakowa, das ist seine Biografin, die erzählt warmherzig, wie er Joyce trifft. Er hat dann statt dieses großen Vorhaben des „Kapital“ einen Werbefilm über Milch für Nestlé hergestellt. Nestlé war begeistert, das erzählt die Bulgakowa, die hatten in „Die Generallinie“ diese Orgie über Molkereien gesehen, und wie die Frau sich mit Milch bespritzt. So was wollten sie haben. Und dann hat er noch für die Geliebte eines russischen Perlen-Oligarchen einen Film gemacht über Liebe. Wie gesagt, er kam nicht zu dem Projekt, aber er hat sehr genau hingeschrieben, was er wollte. Und er sagt, entweder können wir Marx wirklich verfilmen, oder das Vorhaben scheitert, und das ist dann eine wunderbare Kritik an der Filmkunst, die sich dann eben ändern muss. Auch gut. Und dann kommt als nächstes Kapitel das Lamento der liegen gebliebenen Ware, das sind ganze drei Minuten, aber das bringt Musik von Monteverdi bis zu Riehm und erzählt, wenn am Samstag die Waren liegen bleiben und am Montag sind sie nicht mehr gut, dann würde man traurig sein über diese Waren.
Müsste man die Waren befreien?
Ja, unbedingt! Denn auch Waren haben ein Menschenrecht, es steckt ja menschliche Arbeit drin. Um solche Gefühle geht es eigentlich. Mehr machen wir gar nicht.
ALEXANDER KLUGE: NACHRICHTEN AUS DER IDEOLOGISCHEN ANTIKE. MARX – EISENSTEIN – DAS KAPITAL. Mit Helge Schneider, H. M. Enzensberger, Hannelore Hoger, Tom Tykwer, Peter Sloterdijk, Oskar Negt, Rainer Stollmann und vielen anderen. Kino-Premiere am 16. 12. 2008, 20 Uhr im Hamburger Kino Abaton mit Alexander Kluge