: „Der Balkan gehört zu Kerneuropa“
INTERVIEW DANIELA WEINGÄRTNER
taz: Herr Juncker, der Frühjahrsgipfel der EU widmet sich normalerweise unter dem sperrigenTitel „Lissabon-Prozess“ der Wirtschaftsentwicklung der Gemeinschaft. In welchen Bereichen kann die EU denn Impulse geben, wo die nationalen Volkswirtschaften versagen?
Jean-Claude Juncker: Wir müssten die soziale Dimension, die seit Mitte der 90er-Jahre sträflichst vernachlässigt wurde, in Europa wieder verankern. Stattdessen haben wir uns Hals über Kopf in den Deregulierungswahn gestürzt. Wenn mein Vater nur einen befristeten Arbeitsvertrag gehabt hätte, hätte ich nicht studieren können. Tony Blair hat ja mal gesagt, ich sei der letzte noch verbliebene Sozialist in Europa …
Die großen Länder, vor allem Deutschland, wünschen sich in der nächsten Kommission einen Superkommissar für Wirtschaft. Würden Sie sich davon etwas versprechen?
Es ist schon erheiternd, dass anlässlich eines Wirtschaftsgipfels zwischen London, Paris und Berlin nicht weniger als fünfzehn Fachminister am Tisch sitzen, die dann zu dem Schluss gelangen, in Europa müssten die Zuständigkeiten gebündelt werden. Wenn der Prozess zügig vorankommen soll, braucht der Superkommissar – sowieso ein unmöglicher Titel – einen einzigen Gesprächspartner in jedem Land.
Im November werden 25 Ressorts neu zu besetzen sein, mehr als in jeder nationalen Regierung. Nach welchen Kriterien sollten die Aufgaben verteilt werden?
Wir drei Beneluxländer sind der Auffassung, dass es gut wäre, wenn wir weniger Kommissare als Mitglieder hätten. Aber wir werden wohl noch einige Jahre mit dem Prinzip leben müssen: ein Kommissar pro Mitgliedsland. Wie die Arbeit dann verteilt wird, muss man dem künftigen Kommissionspräsidenten überlassen. Es ist nicht gut, wenn sich die nationalen Regierungen da einmischen.
Die Anzahl der Kommissare ist im Verfassungsprozess heiß umstritten. Glauben Sie, dass durch die Ereignisse in Madrid der EU-Reform ein neuer Impuls zuwächst?
Zumindest in der Frage Stimmengewichtung im Ministerrat, Stichwort „doppelte Mehrheit“, zeichnen sich durch den Regierungswechsel in Spanien neue Einigungsmöglichkeiten ab. Aber man vergisst ja oft, dass noch in etwa fünfzig anderen Bereichen eine Einigung gefunden werden muss. Aber ich denke, dass wir unter dem Eindruck der Ereignisse und der neuen Herausforderungen vor Ende des Jahres zu einem Abschluss kommen könnten.
Am Montag trafen sich in Madrid die Chefs der Geheimdienste der fünf größten EU-Länder, gleichzeitig tagten in Brüssel 25 Außenminister, in anderen Städten tun sich andere Zirkel zusammen. Droht nicht die Gefahr, dass die Union in lauter kleine Ad-hoc-Gruppen zerfällt?
Ich habe auch den Eindruck, dass in zu vielen europäischen Sälen zu viele Politiker durcheinander reden. Wir brauchen in Europa dringendst eine zentrale Koordinationsstelle, wo geheimdienstliche Erkenntnisse zusammenlaufen. Wo sie gefiltert und analysiert und dann an Europol und die nationalen Polizeibehörden weitergeleitet werden. Wenn die Gruppe der fünf, die sich am Montag in Madrid getroffen haben, dafür gangbare Wege aufzeigt, war die Sitzung sicher nicht überflüssig. Zielführend wäre es aber gewesen, wenn der Kreis etwas größer gefasst gewesen wäre.
Von der Idee eines Kerneuropa sind Sie ganz abgekommen?
Wenn die Ideen über das gemeinsame Ziel immer mehr auseinander driften würden, wäre ich dafür, eine Kerntruppe zu bilden, die schneller vorangeht. Aber mein Ideal ist ein Kerneuropa der 25 Staaten. Auch beim Kampf gegen Terrorismus und das internationale Verbrechertum hätte ich gern, dass wir 25 und zusammen voranbewegen. Falls das aber nicht möglich sein sollte, dann müssen diejenigen, die eine Idee haben, wie das organisiert werden soll, es auf dem Wege der verstärkten Zusammenarbeit angehen. Man muss gleichzeitig darauf achten, dass man unter dem Eindruck der Ereignisse nicht alles über Bord wirft, was wir an individuellen Freiheiten angesammelt haben.
Wo sollte die Koordinationsstelle der Geheimdienste angesiedelt sein?
Die Kooperation der Geheimdienste ist auch in Europa Sache der nationalen Regierungen. Beim jetzigen Stand – obwohl ich es mir anders wünschte – würden sich die nationalen Dienste sehr schwer damit tun, einem von den Staaten losgelösten EU-Kommissar Erkenntnisse zu übermitteln. Wir brauchen einen Koordinator beim Rat.
Der künftige ungarische Kommissar Balasz hat die Idee ins Spiel gebracht, unterschiedliche Klassen von EU-Mitgliedern zu schaffen und manchen sozusagen die goldene Clubkarte zu geben, anderen nicht.
Wenn die jetzige Erweiterungsrunde plus Rumänien und Bulgarien, Balkan und vielleicht Türkei abgeschlossen ist, sollten wir innehalten und neu überlegen. Der Balkan gehört für mich zu Kerneuropa. Anschließend könnte ich mir aber vorstellen, dass es im Bereich der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik neue Formen der Zusammenarbeit mit den dann engsten Nachbarn der Union geben könnte, während sich auf wirtschaftlichem Gebiet die Annäherung an europäische Standards wesentlich langsamer vollziehen würde.
Unser Ausgangspunkt war die wirtschaftliche Situation, die auf der Tagesordnung dieses Gipfels ja weit oben steht. Luxemburg ist, pro Kopf gerechnet, der größte EU-Nettozahler. Warum beteiligen Sie sich nicht an der Spardebatte?
Ich bin lieber Premierminister eines Landes, das Nettozahler ist. Ich verstehe nicht, wieso man sich darüber beklagen kann, dass man Nettozahler ist. Vor drei Wochen habe ich wegen der Verfassungsdebatte meinen irischen Kollegen Bertie Ahern besucht. Er hat mir freudestrahlend mitgeteilt, dass er 2007 Nettozahler sein wird. Ich habe den Brief der sechs Nettozahler, in dem sie eine Begrenzung der Ausgaben auf weniger als ein Prozent des Bruttoinlandsprodukts fordern, nicht unterzeichnet, weil die Erweiterung nicht zum Nulltarif zu haben ist. Wir sollten uns erst verständigen, welche Politiken wir in der Union gemeinschaftlich umsetzen wollen, und dann darüber reden, wie wir die finanzielle Anstrengung unter uns aufteilen. Ich habe Verständnis dafür, dass die Bundesrepublik angesichts der Erfordernisse des Stabilitätspakts Schwierigkeiten hat, noch weitere 14 Milliarden Euro auf den europäischen Tisch zu legen. Aber ansonsten habe ich nur beschränktes Verständnis für das Wehkla-gen der Nettozahler.
Wenn Sie für die Agenda der kommenden Finanzperiode 2007 bis 2013 den Wunschzettel aufstellen dürften, was würden Sie ganz oben draufschreiben?
Dass wir die Solidaritätsinstrumente in der Union, also die Strukturpolitik, nicht zerschlagen dürfen. Außerdem brauchen wir erhebliche Finanzmittel, wenn wir wirklich eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik verwirklichen wollen. Ich wünschte mir auch, dass wir junge Menschen mit dem europäischen Projekt versöhnen, indem wir wieder mehr Gestaltungswillen nach außen zeigen. Es gibt in der Welt eine unwahrscheinliche Nachfrage nach dem Projekt Europa, für die wir uns taub stellen. Solange es jeden Tag noch 30.000 Menschen gibt, die an Hunger krepieren, so lange ist Europa mit seiner Aufgabe nicht am Ende. Wenn wir uns als nächstes großes Projekt nach Binnenmarkt, Euro und Verfassung vornehmen würden, dass die Europäer ihren ganzen Stolz in das Unterfangen investieren, den Hungertod in der Welt zu beseitigen, dann würde die europäische Idee den Menschen wieder näher sein.