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Archiv-Artikel

Die Vatertochter

Der Familientraum von France wäre für ihren Vater wahrscheinlich ein Alptraum gewesen

aus Brüssel DANIELA WEINGÄRTNER

Der erste Eindruck: eine Orgie aus rotem Plüsch. Sepiafarbene Fotos aus dem Brüssel der deutschen Besatzungszeit. Das Wohnzimmer des Kartonagenfabrikanten Romain Brel, ordentlich drapiert als Kulisse für das typische Familienfoto dieser Zeit: Streng blicken Vater und Mutter in die Kamera, der sechs Jahre ältere Bruder Pierre an der Seite des kleinen Jacques mit Streichholzbeinen, die aus kurzen Hosen ragen, schnurgerader Scheitel im nass gekämmten Haar, die Zähne schief, damals schon.

„Ein Mensch verbringt sein Leben damit, seine Kindheit zu kompensieren“, hat Jacques Brel oft gesagt. Er war davon besessen, als Kind unglücklicher als andere gewesen zu sein. France Brel, seine mittlere Tochter, sieht ihr Leben nüchterner. Öffentlich zur Schau gestellte Gefühle und Selbstbetrachtungen sind ihre Sache nicht. „Ich habe meine Kindheit gehasst“, sagt sie lakonisch. „Alles ging mir auf die Nerven. Ich habe mich enorm einsam gefühlt. Wenn man nicht wie die anderen ist, ist es nicht einfach.“

Das ist alles lange her. Heute ist sie eine blühend aussehende, leicht gebräunte Fünfzigjährige mit Sonnenbrille im kastanienrot gefärbten, halblangen Haar und einer Vorliebe für fließende rote Stoffe. Nur wenige Jahre lebte sie mit dem Mann, den sie Jacques nennt, unter einem Dach, von klein auf war sie daran gewohnt, den geliebten Papa mit seinen Fans zu teilen. An der Ausstellung zum 25. Todestag ihres Vaters hat sie zweieinhalb Jahre lang gearbeitet. Der Rundgang sei ihr Geschenk an sein Publikum, Ausdruck des sozialen Engagements, das bei den Brels schon immer stärker ausgeprägt gewesen sei als ihre künstlerische Ambition.

Sie versteht nicht, warum die Journalisten plötzlich all diese persönlichen Fragen stellen: Was für ein Vater Jacques gewesen ist, ob sie eine glückliche Familie waren, warum sie für die Schau mehr als zwei Millionen Euro aus dem Privatvermögen der Familie eingesetzt hat. „Wir sind auf der Welt, um anderen etwas zu geben. Es hat mir Freude gemacht, etwas zu erschaffen. Aber was es mir gibt – keine Ahnung. Ich stehe jeden Morgen auf, und das ist es. Keine große Sache. Ich muss mir nichts von der Seele reden. Die Journalisten bringen mich zum Reden, aber ich brauche das nicht.“

Es ist ihr nicht bewusst, dass es die imaginären Räume ihres Familienlebens sind, die all diese Fragen provozieren. Sie hat keine Ausstellung über Jacques Brel, den Sprachkünstler, Dichter und Chansonnier gemacht, sondern Kleinmädchen-Träume ausgestellt von Vater-Mutter-Kindern – und wie deren Leben hätte verlaufen sollen. Wenn ein schwärmerischer Teenager drei Millionen Euro zur Verfügung hätte, ein Team aus Tonspezialisten, Video-Experten und Effektkünstlern, dazu die Ausstellungshalle einer großen Bank mitten in Brüssel – dann käme vielleicht ein solch melancholischer, regnerischer Rundgang dabei heraus.

Brüsseler Kopfsteinpflaster, Künstler-Romantik an der Pariser Place du Tertre der 50er-Jahre, ein Tonteppich aus Brel-Chansons und Südsee-Hula-Hula. Dazwischen immer wieder diese Fotos, die den aufmerksamen Ehemann und Familienvater zeigen: Mit den Töchtern im Cockpit des Sportflugzeugs, mit France 1974 auf dem Segelschiff, mit Ehefrau Miche und den drei Mädchen Ende der 50er-Jahre im gemeinsamen Apartement in Paris.

Brüssel hängt derzeit voll mit Plakaten, auf denen im Schäfchenwolken-Himmel Augen und Nase des großen Jacques schweben, darunter der Ausstellungstitel: „Brel – le droit de rêver“, Brel – das Recht zu träumen. Für eine Tochter könnte es auch zum Alptraum werden, den eigenen Vater, zu ewiger Jugend verdammt, von jeder Plakatwand herunter sein zärtliches, leicht rätselhaftes Lächeln lächeln zu sehen. Doch Jacques war schon zu Lebzeiten der ewige Junge, der belgische James Dean, der seine Kindheit abschütteln wollte und sich doch weigerte, erwachsen zu werden.

Den Spagat zwischen öffentlichem Leben und Schutz der Privatheit kennt France Brel von Kindheit an. Brel gehört seinem Publikum, lautet ihr persönliches Motto, unter das sie ihr Leben seit 22 Jahren stellt. Auch an dem Morgen, an dem sie Journalisten aus ganz Europa durch ihre Ausstellung führt, sagt sie es wieder: „Er gehört uns schon lange nicht mehr.“ Und lässt damit indirekt anklingen, dass er ihnen einmal gehört hat, den drei Mädchen Chantal, France und Isabelle und ihrer Mutter Thérèse, genannt Miche.

Am nächsten Tag bei der Pressekonferenz mit Ballettmeister Maurice Béjart, der Brel und der Sängerin Barbara eine Choreografie gewidmet hat, das gleiche mädchenhafte Strahlen, die gleiche glühende Begeisterung. „Jacques“ haucht sie da, mit ganz weichem J und ganz langem a. Hand in Hand sitzt sie mit dem alten Tänzer vorn auf dem Podium, blickt ihm innig in die Augen: „Hier finde ich die gleiche Einfachheit, die ich auch in meinem Vater gesehen habe.“ Und Béjart erinnert sie: „Als du mich zum ersten Mal hast tanzen sehen, hast du Papa zu mir gesagt.“

Die zierliche, inzwischen 77-jährige Miche steht bei solchen Auftritten still neben ihrer Tochter und hört sich die Schwärmerei über „Jacques“ mit sichtlichem Amüsement an. Das Mädchen, das eine Frau spielt oder die Frau, die ein Mädchen mimt – so ist Miche von Jacques’ Biografen beschrieben worden und so wirkt sie noch heute: Listig, verschmitzt, und dabei auch bodenständig und sehr pragmatisch. Mit 21 Jahren hat sie den damals 19-jährigen Jacques geheiratet, wurde für ihn Geliebte, Mutter, Managerin, lebenslange Hüterin seiner fest verwurzelten bürgerlichen Prinzipien, von denen er sich in seinen Texten zu befreien versuchte. Zu ihr kehrte er – vom Leben und der Liebe zerzaust – immer wieder zurück.

Hätte Miche die Ausstellung in Brüssels Touristenmeile neben der Hubertus-Galerie zusammengestellt, hätten all die Frauen, die ihn im Leben begeisterten, quälten, zermürbten und erfreuten, darin wahrscheinlich ihren Platz gehabt. Schließlich gehörten sie von Anfang an dazu, schon in den frühen Ehejahren, als die Kinder noch ganz klein waren – und doch hielt er Miche auf seine Weise die Treue, scheute die Scheidung, vermachte ihr am Ende sein Vermögen und die Rechte an seinem Werk.

„Ich bin kein Deserteur der Ehe“, hat Brel einmal beteuert. Ein Deserteur ist er nicht. Ein Wanderer zwischen den Welten schon. Da ist die Sängerin Barbara, die langjährige Pariser Geliebte Suzanne, dann ihre Nachfolgerinnen Sophie, Marianne, schließlich Maddly, die Gefährtin seiner letzten, vom Lungenkrebs beschwerten Lebensjahre auf der Südsee-Insel Hiva Oa, wo er heute, nicht weit von Gauguin, begraben liegt.

Doch France Brel schneidet diese Frauen sorgfältig aus ihrem Erinnerungsbuch heraus. Zwar spielt auch in ihrer Ausstellung der letzte Lebensabschnitt in der Südsee eine wichtige Rolle. Seine Strandhütte aus Palmwedeln hat sie nachbauen lassen. Doch statt Maddly, die ihren Vater in seinen letzten Lebensjahren begleitete und pflegte, während er sich immer mehr von Miche entfernte und nur selten die Briefe seiner Töchter beantwortete, hängen auch hier die Fotos von Brel und seinen vier Mädels in trauter Harmonie.

Sie versteht nicht, warum die Journalisten ihr plötzlich all diese persönlichen Fragen stellen

Der Familientraum von France wäre für ihren Vater wahrscheinlich ein Alptraum gewesen. Er hasste nichts so sehr wie bürgerlichen Mief, verspottete in seinen Liedern die Kleinbürger und bigotten Pfaffen, bei denen er aber doch seine drei Kinder taufen ließ. In der kleinen Stiftung in Brüssels Altstadt , die France 1981 gegründet hat, ist die Kneipe in Knokke nachgebaut, wo Brel so gern nach der Vorstellung die Zeit verquatschte, verqualmte und versoff. Sägemehl gehört hier auf den Boden. Doch in der neuen Ausstellung ist der Nachbau viel größer und messingblitzend geraten, ein dicker roter Teppich dämpft die Gespräche der Ausstellungsbesucher, die zum Abschluss hier einen Cocktail schlürfen.

Dennoch antwortet France auf die Frage, wo in dieser Ausstellung ihr Vater sich wohl gefühlt hätte: „In der Bar natürlich. Das ist sein Platz nach der Vorstellung … Nichts für mich, ich mag das überhaupt nicht. Ich bin eine Frau der Stille. Mein Vater wollte nie, dass wir ihn in die Kneipen begleiten. Er war der Meinung, Kinder gehören früh ins Bett – und da hat er absolut Recht.“ Noch heute verbringt France ihre Abende am liebsten zu Hause, nur enge Freunde kennen ihre Adresse und Telefonnummer.

Brel war ein strenger Vater, der Wert darauf legte, dass seine Kinder gepflegt aussahen, sich gut benahmen und fleißig lernten. Natürlich war Miche dafür zuständig, diese Erziehungsziele durchzusetzen. Für sein Publikum hielt er dagegen eine ganz andere Botschaft bereit, die sich durch Filme, Interviews und seine Lieder zieht: „Für mich ist die Kindheit ein tief hängender Himmel, es ist grau, es ist feucht, und es gibt Erwachsene, die ich nicht verstehe. ... und die mich nicht verstehen. Als ich zwölf war, hab’ ich mich gefragt, ob sie es mit Absicht tun. Ich habe nie gewagt, mir diese Frage zu beantworten.“

Die Kindheit endet nach Brels Lebensphilosophie mit 15 – im Süden zwei Jahre früher, bei den Leuten aus dem Norden zwei Jahre später. Lebensaufgabe jedes Menschen ist es, seine unterdrückten Träume aus der Kinderzeit zu verwirklichen. Ob er die Anstrengungen seiner Tochter, lebenslänglich am Bild der perfekten Kindheit zu basteln, hätte gelten lassen? Wahrscheinlich hätte er sich für ihr Projekt nicht sonderlich interessiert. Bis zu seinem Tod 1978 behandelte er seine Kinder wie Puppen, die man gelegentlich aus dem Schrank holt und, wenn man ihrer überdrüssig ist, achtlos auf ihren Platz zurückstellt.

Die Kindheit von France endete 1974, mit 21 Jahren. Damals kaufte Brel ein Segelboot und lud seine mittlere Tochter zu einer fünfjährigen Weltumseglung ein. Sie ließ alles stehen und liegen und schloss sich ihm an. Erst an Bord entdeckte sie, dass sie ihren Vater wieder würde teilen müssen – mit Maddly. Nach wenigen Wochen wurde sein Lungentumor diagnostiziert und in der Schweiz operiert. Zwei Monate lang hütete France pflichtbewusst das Schiff, bevor ihr Vater mit Maddly zurückkehrte. Erst dann verließ sie im Streit die Segelyacht.

Am Ende des Brüsseler Brel-Gedächtnis-Parcours wird der Besucher in ein rotes Plüsch-Walhalla geführt, in dem er sich durch ein Spiel aus Lichteffekten plötzlich im Spiegel mit sich selber und der Frage konfrontiert sieht: „Wo sind deine Träume?“ France sagt, ihr Lebenstraum sei nicht, die Tochter von Jacques zu sein, sondern die Mutter ihrer zwei Adoptivkinder. „Ich rede mit meinen Kindern. Mein Vater war ein Mann der Stille. Ich sage nicht, dass er uns nicht zugehört hat, aber er hat nicht geredet. Ich gehe viel mehr auf meine Kinder ein als meine Mutter das bei uns getan hat. Meine große Tochter war zur Ausstellungseröffnung hier – sie war für mich die wichtigste Person des ganzen Abends.“