: Zur Physiognomie der Kerle
Der exzentrische Blick: Für ihr essayistisches Werk wurde die Kulturwissenschaftlerin Claudia Schmölders am Donnerstag mit dem Heinrich-Mann-Preis ausgezeichnet
Auf den ersten Blick scheint die Stoffpuppe mit den Hauzähnen und den gelben Telleraugen nicht so recht zum Festakt zu passen. Doch der Eindruck täuscht. Denn den größten Teil ihrer Leser hat Claudia Schmölders, die am Donnerstag in der Akademie der Künste mit dem Heinrich-Mann-Preis ausgezeichnet wurde, durch ein Kinderbuch erreicht: Als Volontärin beim Zürcher Diogenes-Verlag übersetzte sie 1967 Maurice Sendaks „Wo die wilden Kerle wohnen“ ins Deutsche.
Die mit 8.000 Euro dotierte Auszeichnung erhielt die habilitierte Kulturwissenschaftlerin jetzt allerdings für ihr essayistisches Werk. Die dreiköpfige Jury bescheinigte der Preisträgerin „gelehrtes Wissen, soziales Bewusstsein und einen Mut zum Abseitigen“.
Der exzentrische Blick ist für Schmölders, die zwanzig Jahre lang als Übersetzerin und Verlagslektorin gearbeitet hat, ihr eigentliches Forschungsthema. Als sie 1991 an das Berliner Wissenschaftskolleg berufen wurde, fand sie zur Physiognomik. Damit habe sie, so Wolf Lepenies, der in seiner Laudatio vor 200 Gästen gar einen Zusammenhang von rheinischer Frohnatur und wissenschaftlichem Stil erkennen wollte, als Kulturwissenschaftlerin ihr unverwechselbares Gesicht bekommen.
Den wilden Kerlen hat Schmölders die Treue gehalten. 2000 erschien ihre kulturwissenschaftliche Studie „Hitlers Gesicht. Eine physiognomische Biographie“. Das Herrscherbildnis Hitlers habe den Deutschen nach dem Ersten Weltkrieg als Projektionsfläche gedient, um das verlorene Gesicht wiederzugewinnen und das angekratzte nationale Selbstbewusstsein zu stabilisieren. Schmölders betrachtet Hitlers Antlitz als Nagelprobe für die physiognomische Mode der Weimarer Republik: „Kein Mensch sieht diesem Gesicht an, dass es sechs Millionen Leute umbringen lassen wollte.“ Bündig daher ihr Fazit: „Alle Physiognomik ist Unsinn.“
So verzichtete die Preisträgerin in ihrer Dankrede „Europa und die Liebe“ auf visionäre Kaffeesatzleserei im Mienenspiel des braunen Diktators und verwies auf die historische Alternative: den Pan-Europa-Idealismus der Zwischenkriegszeit.
Schmölders deutet die Europaidee Heinrich Manns als hellsichtige realpolitische Analyse und zugleich als Liebe zum Geist und zum weiblichen Körper. Heinrich Mann habe sich die europäische Einigung „als erotischen Vorgang ausgemalt“.
Wo Liebe das Prinzip ist, müssen terminologische Zweifel verstummen. Das haben schon die wilden Kerle vorgemacht. „Wir fressen dich auf – wir haben dich so gern!“, riefen sie im Kinderbuch, als Max die Nase voll von ihnen hatte und wieder absegeln wollte. Schmölders erzählte, dass ihr die Übersetzung „Kerle“ für die in Sendaks Original als „wild things“ bezeichneten Zottelwesen damals den Vorwurf der Verharmlosung und Verniedlichung eingetragen habe. „Kerle“ sei ein reaktionärer Begriff, „Wesen“ müsste es heißen, mäkelte die Zeitschrift Sprache im technischen Zeitalter. Doch das kann Claudia Schmölders nicht mehr erschüttern. Ganz im Sinne Heinrich Manns legte sie ihrer Wortwahl einen emotionalen Sinn zugrunde und bürstete die Kritik nachträglich ab: „Das war die Angst der Linken vor der Wärme.“ JAN-HENDRIK WULF