: Papomania Aachen
Die traditionell selbstbesoffene Katholikenstadt gerät erst ins Delirium und danach ins Grübeln. Auch wenn der Papst den Karlspreis erhalten hat, ändert das nichts am maroden Bistumshaushalt
VON BERND MÜLLENDER
Aachen ist besoffen. Von sich selbst. Immer schon. Weil es schön hier ist, sagen sich die Einwohner pausenlos, so gemütlich und weltoffen „im Herzen Europas“. Der Aachener glaubt grundsätzlich, alles, was in Aachen passiert, passiert nur hier.
Und die Domstadt ist geprägt vom Katholizismus. Kirchen bestimmen das Stadtbild, die Zeitungen sind voll von Berichten über kirchliche Einrichtungen, Taten, Ereignisse. Wer im weiteren Sinne einen Sozialberuf hat, ist ohne das richtige Gebetsbuch auf dem Aachener Arbeitsmarkt chancenlos. In der vorigen Woche war das selbstbesoffene Katholikenmekka besonders besoffen vor Glück, nahe am Delirium. Und gleichzeitig sehr nüchtern, besser: ernüchtert und verkatert.
Doch der Reihe nach: In Aachen, hierzulande auch Oche genannt, wird Kaiser Karl gottgleich gehuldigt. Dieser Karl (768–814) war zwar ein fürchterlicher Kinderschänder und Vergewaltiger, Angriffskrieger und Raubschatzer („Sachsenschlächter“). Aber egal: Die drogenkranke Stadt verehrt ihn als Europas christlichen Urahnen; im Ocher Bürgertum möchte jeder am liebsten persönlich von Karl dem Großen abstammen. Seit 1950 gibt es den Karlspreis. Vergangene Woche wurde er außerordentlich verliehen – an den Papst.
Und siehe, Oche drehte durch. 150 Printenmenschen waren gen Vatikan gereist: Würdenträger aus Karlspreis-Direktorium, Stadtrat, Industrielle, dazu Bischof, Domchor, Oberbürgermeister. Der SPD-OB laudationierte den Papst als Friedensförderer, Mahner und Wertewahrer, der „einen herausragenden Beitrag zur Einheit Europas“ geleistet habe. Der Papst sprach dankend vom „Humus des Christentums“, der „ein Europa in geistiger Einheit“ fördere.
9 Minuten und 42,3 Sekunden hatte der Papst gesprochen. Nicht im Öcher Singsang der mitgereisten Ministerin Ulla Schmidt („Es war emotional bewegend“), aber eben auf Deutsch. Und immerhin viermal hatte Wojtiła das Wort Aachen liebevoll und richtig ausgesprochen. 9:42:03 allein für Aachen. Wo es übernächsten Sonntag wieder nur zu einem „gesägnätäm Oosterfähst“ für 100 Millionen Deutschsprachige reichen wird.
Auch die Lokalreporter waren nach der Reise außer sich – etwa von der Festakt-Etikette: „Man ist es einfach nicht mehr gewohnt, gesagt zu bekommen, wie man sich zu benehmen hat.“ Folge: „Kaum jemals hat man sich dem Alltag so entrissen gefühlt.“ Die Aachener WDR-Reporterin berichtete, alle hätten „Tränen in den Augen gehabt“. Die OB-Gattin fiel vor dem Papst auf die Knie und küsste ihm die Hände. Die Gattin von Walter Scheel (Ex-Karlspreisträger) hatte dem Hl. Vater selbst gestrickte Pantoffeln überreicht, weil der immer so kalte Füße habe. Und der Leitartikel der Lokalzeitung: „Papst – Superstar“.
Weitere 150 Menschen standen am Freitagabend für das ernüchterte Katholiken-Aachen auf. Es waren Kirchenmitarbeiter auf Demo, darunter ein Dutzend Geistliche. Sie stapften trotzig durch den Schneesturm, trillerpfiffen, schlugen Kochtöpfe und trugen Holzkreuze. Das Bistum Aachen hat planlos gewirtschaftet (wie andere auch), 50 Millionen Euro fehlen im Haushalt. Mehrere hundert Arbeitsplätze stehen auf der Streichliste, die Regionalstellen vor dem Aus. „Der Sozialkatholizismus wird geköpft“, sagt einer, „eine sehr politische Entscheidung.“
90 Priester haben eine Resolution gegen die eigene Bistumsleitung unterschrieben. Ein Demonstrant trägt eine schwarze Fahne. Flüchtlingsbeauftragte, Militärseelsorger, Begegnungsstätten, Auslandsreferenten an der Uni – all so was soll weg. „Die Glaubwürdigkeit der Kirche steht substanziell auf dem Spiel“, sagt ein Redner, und weil man wenig Demo-Erfahrung hat in diesen Kreisen, muss er hinzufügen: „Ihr dürft jetzt klatschen.“ Die Basis hat Ideen: Urlaubsverzicht, Solidarfonds. Man fordert finanzielle Transparenz und Unternehmensberater. Die Kirchenleitung ignoriert.
Zusammenhänge mit Rom und Karlspreis? Ein Dekan sagt: „Natürlich. Da spielen sie heile Welt und lassen die Probleme zurück.“ Ein anderer: „Als ich den Papst und Bischof Mussinghoff tuscheln sah, hab ich mir gewünscht, dass der Hl. Vater sagt: ‚Heinrich, hört auf mit dem Scheiß!‘ “ Aber, resigniert: „Heilig ist, was dem Klerus nutzt. Du redest gegen Wände.“ Hier gibt es „den Kahlschlag in der Jugendarbeit“, prophezeit verbittert ein Pfarrer, „dort reden sie dem Papst nach dem Mund, wie sozial und solidarisch Europa ist.“
Zwei Demonstranten reden über „die vielen Antichristen“, die als Entourage nach Rom mitgereist waren und sich „eingeschmeichelt haben für ihre Erinnerungsfotos“. Am gleichen Tag hatten die Aachener Nachrichten den schönsten Printen-Zentrismus geliefert: „Diese Stunde im Vatikan führt unseren Karlspreis in seiner Bedeutung ganz nah an den Friedensnobelpreis heran.“ Beruhigend: Sie wissen, dass es noch andere Preise gibt. Der Papst hatte den Karlsstädtern Gottes Segen „für das wahre Wohl der Menschen“ gewünscht.