: Mörderisch, doch lösbar
Deutschland trägt eine historische Teilschuld am Nahostkonflikt. Jetzt muss es zu dessen Lösung beitragen – indem es gemeinsam mit der EU Israel ökonomisch unter Druck setzt
Viele ausländische Betrachter nehmen den Mord an Scheich Jassin als einen blinden Vergeltungsakt wahr. Doch dieses Attentat passt genau in eine geradlinige Politik, die Ariel Scharon seit über zwei Jahrzehnten verfolgt. Denn: Er hält die Lösung des Nahostkonflikts durch Verhandlungen nicht für wünschenswert, um seine Ziele zu erreichen: Die Sicherung einer jüdischen Mehrheit auf einem größtmöglichen Gebiet – und die Schwächung des Gegners, vor allem die Verhinderung eines lebensfähigen palästinensischen Staates.
Der Mord an Jassin, aber auch die Drohung, alle Hamas-Führer zu töten, soll dem palästinensischen Gedächtnis „einätzen“, dass Israel militärisch absolut überlegen ist, und den palästinensischen Kampfeswillen langfristig schwächen.
Gleichzeitig zielt Scharon auf eine Radikalisierung und Zersplitterung der Palästinenser. Wenn dem Westen vorgeführt wird, dass keine Partner für Verhandlungen vorhanden sind, erhofft sich der israelische Premier einen Freibrief für die Annexion der für ihn wichtigsten Teile des Westjordanlandes. Dafür ist er anscheinend zu einem einseitigen Rückzug aus dem Gaza-Streifen bereit. Diese Politik wird für Palästinenser, wie für Israelis fatale Folgen haben.
Das gesamte 20. Jahrhundert enthält eine Fülle von Beweisen dafür, dass auch die barbarischste Repression keinen Widerstand brechen kann, der gegen eine Besatzungsmacht gerichtet ist. Die Palästinenser werden durch den Mord an Jassin nicht kapitulieren, sondern in der Überzeugung bestärkt, Israel verstehe nur die Sprache der Gewalt. Dem radikalen Jassin – der von Israel in den Siebzigerjahren hochgepäppelt wurde als ein islamisches Gegengewicht zu der damals PLO-nahen, weltlichen Führung – werden radikalere Führer folgen. Seine Ermordung wird lediglich die Arena des Terrors erweitern.
Der Boden hierfür ist bereitet: Wer die besetzten Gebiete je besucht hat, kennt das Ausmaß der alltäglichen Erniedrigungen, die die zivile Bevölkerung dort erduldet, und die Zerstörungswut der Besatzungsmacht. Mit dem Mauerbau werden wieder hunderttausende Palästinenser, die auf der falschen Seite der Mauer leben, aus ihren Siedlungen verdrängt. Ihnen entzieht der Grenzverlauf die Lebensgrundlage, ihre Kinder werden geradezu aufgefordert, willige Helfer der Todesbringer zu werden.
Der gleichzeitige Plan, sich aus dicht bevölkerten Gebieten einseitig zurückzuziehen, bedeutet die Schaffung von ummauerten Enklaven, in denen vier Millionen Palästinenser eingepfercht werden. Zusammen mit dem fortschreitenden Ausbau der Siedlungen wird damit eine Zweistaatenlösung endgültig untergraben, denn ein palästinensischer Staat auf dem Gebiet dieser Enklaven wäre eine Farce. Wie schon jetzt im Gaza-Streifen sichtbar, entstünden dadurch nur weitere Elendsquartiere, die sich von keinen noch so umfangreichen internationalen Hilfsgeldern zu blühenden Landschaften verwandeln lassen werden.
Scharons Plan wird jedoch nicht nur katastrophale Folgen für die Palästinenser haben: Den israelischen Wunsch nach einem Ende der mörderischen Anschläge, nach Sicherheit und Stabilität wird er keineswegs erfüllen. Das wissen auch viele Israelis, und ihr Unbehagen wächst. Hier kann und muss Europa einspringen, schon aus eigenem Selbsterhaltungstrieb. Denn der Konflikt schwächt die moderaten Parteien in gesamten Nahen Osten und erreicht schon jetzt die Pariser Vororte und, noch in geschwächter Form, Berlin.
Was fälschlicherweise als Erstarken des Antisemitismus wahrgenommen wird, ist großenteils der Export des Nahostkonflikts nach Europa. Das verletzte Rechtsempfinden und die empfundene Hilflosigkeit und fortlaufende Erniedrigung hier lebender Palästinenser und Araber findet ein Ventil in der offenen Feindseligkeit gegenüber einzelnen Juden und jüdischen Gemeinden, die sich die offizielle israelische Politik zu Eigen gemacht haben.
Scheich Jassin war der Hamas-Führer, der eine Erweiterung des Konflikts auf ausländische Ziele stets verneinte. Jetzt, nach seinem Tod, könnte er nach Europa getragen werden. Ein lokaler Konflikt wird also internationalisiert und vertieft zudem die ohnehin zunehmende Kluft zwischen dem Westen und der muslimischen Welt. In Europa werden die ersten Opfer hiervon jüdische Gemeinden und palästinensische Flüchtlinge sein. Europas Innenpolitiker müssen dies, wenn nötig mit repressiven Maßnahmen, eindämmen. Doch gleichzeitig muss das Problem in Nahost selbst angegangen werden.
Wenn ein Schulterschluss mit den USA vorerst nicht möglich sein sollte, auch weil das Land innenpolitisch dazu nicht in der Lage ist, muss Europa allein oder mit anderen Partnern handeln. Tatsächlich plant ja die Europäische Gemeinschaft, zusammen mit der Arabischen Liga, die Saudi-Initiative wieder ins Leben zu rufen – also Anerkennung Israels, wenn Israel im Gegenzug einen palästinensischen Staat in den gesamten besetzten Gebieten akzeptiert. Dazu gibt es Pläne für eine diesbezügliche Aufklärungsoffensive in Israel.
Die Zeit dafür ist reifer denn je: Beide Völker sind für einen Frieden bereit, auch wenn es die Führungen noch nicht sind. Auch der Rahmen für einen gerechten Frieden ist gesteckt: Tausende von Unterschriften unter der Genfer Initiative sind mehr als ein Indiz hierfür.
Doch, eine Charmeoffensive, wie sie bislang die EU betreibt, ist keine Politik: Gestaltung heißt in der politischen Welt Einflussnahme. Daher darf Europa nicht vor einem Einsatz seiner objektiv enormen wirtschaftlichen Macht in der Region zurückschrecken. Die Türkeipolitik der Europäischen Union kann hier Vorbildfunktion haben. Nur eine derart aktive EU würde als alternative Stimme zu Amerikas Kampf gegen das Böse Gehör finden. Doch, bedingt durch sein – berechtigtes – Sonderverhältnis zu Israel, lässt sich die Bundesrepublik dazu verleiten, jede europäische Aktion oder Drohung zu blockieren, die gegen die Interessen der israelischen Regierung gerichtet ist.
Doch: Wenn die Bundesrepublik den völligen Verschleiß der demokratischen Strukturen und Mechanismen in Israel verhindern will, wenn ihr an der langfristigen Sicherheit Israels und der jüdischen Gemeinden in aller Welt etwas liegt, muss sie die Europäische Union handeln lassen.
Auch wenn Scharon polemisiert, jede Kritik an Israel sei antisemitisch: Deutschland muss aktiv werden. Es trägt zwar eine historische Teilschuld an der Entstehung dieses Konflikts, aber es kann zu seiner Lösung erheblich beitragen. Dazu muss es erkennen, dass es nicht mehr ausreicht, sein besonderes Verhältnis zu Israel zu pflegen. Es muss den Konflikt als das betrachten, was er ist: ein mörderischer, doch lösbarer lokaler Konflikt zwischen zwei Völkern um Land und Ressourcen – und darüber hinaus ein Konflikt, der die Existenz beider beteiligter Parteien und den Weltfrieden gefährdet. TSAFRIR COHEN