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Archiv-Artikel

Im Räderwerk der Töne

Das Berliner Festival MaerzMusik ringt mit dem Begriff einer „aktuellen“ Musik – mit Erfolg. Nur mit seinen vollmundig angekündigten Uraufführungen hatte es in diesem Jahr etwas Pech

Von BJÖRN GOTTSTEIN

Es geschah bei der Aufführung von Mauricio Kagels „Musik für Renaissance-Instrumente“, dass die Organistin eine Taste festklemmte, aus ihrem Instrument herauskletterte und sich am Rücken der Orgel zu schaffen machte. Sie zog und stemmte die Pfeife, als ginge es der Musik an den Kragen. Der Ton gab nach und glitt – erlegt, gekränkt – abwärts.

Manche Menschen verlangen mehr von der Musik, als nur das trockene Brot zu bieten. Für diese Menschen gibt es das Festival MaerzMusik. Zehn Tage lang sind Musiker – im buchstäblichen wie im übertragenen Sinne – hinter ihren Instrumenten hervorgeklettert, um ihre Neugier und ihren Eifer im Räderwerk der Töne zu befriedigen.

Als „Festival für aktuelle Musik“ hatte die MaerzMusik vor drei Jahren die ehrwürdige MusikBiennale abgelöst. Mit dem Etikett „aktuelle Musik“ hat man sich von den lästigen Kategorien vermeintlich höherer und niederer Künste befreit. Notenpapier und Konzertsaal wurden, wenn auch nicht gleich abgeschafft, so doch ihrer Autorität enthoben.

Deshalb konnte jetzt zum Beispiel der russische Akustik-Ingenieur COH im Rahmen der MaerzMusik auftreten, der sich – statt an den Pfeifen einer Orgel – am Quellcode der Software zu schaffen macht, und dessen schmirgelnde Beats einem unbehaglich den Nacken herabträufeln. Deshalb konnte man Reinhold Friedl erleben, der mit einem Neo-Bechstein arbeitet, einem ersten elektrischen Flügel der Zwanzigerjahre, den der Berliner Pianist in eine trübe und zähe, vor Obertönen triefende Klangbrühe taucht.

Und man hatte John Zorn nach Berlin geholt, um mit einer Supergroup freier Improvisatoren sein Stück „Cobra“ zu reanimieren. „Cobra“ gehört zu Zorns Spiel-Stücken, bei der nur bestimmte Regeln und Züge vorgegeben werden – ein Konzept, das sich am vergangenen Freitag als geradezu befreiend erwies: Die Musiker werden aus ihren Enklaven ins Kollektiv gedrängt, ohne dass sie ihre Klang-Identitäten preiszugeben hätten. Nun ist „Cobra“ geschlagene zwanzig Jahre alt, und in den vergangenen Jahrzehnten regelrecht durchgenudelt worden.

Es gehörte zu einer ganzen Reihe von veritablen Klassikern, die zu den besten Stücken des Festivals zählten: die monströse „Concord“-Sonate (1907/15) von Charles Ives, die Heather O’Donnell mit durchtriebener und brillanter Härte exerzierte. Oder das prärevolutionäre „Laborintus II“, das Luciano Berio und Edoardo Sanguineti gemeinsam Anfang der Sechzigerjahre entwarfen, und das vom Pariser Ensemble Intercontemporain mit wilder Eleganz vorgetragen wurde.

Natürlich sind auch Ives, Berio und Zorn Komponisten, die sich mit musikalischen Butterbroten nicht zufrieden geben. Nur mit der „aktuellen Musik“ scheint es da nicht mehr weit her zu sein. Vielleicht wäre es auch weniger ein Problem, hätte die MaerzMusik nicht so ein vermaledeites Pech mit ihren schwergewichtigen Uraufführungen. Das in Auftrag gegebene Orchesterstück des gefeierten Spektralisten Tristan Murail erwies sich als ein Stück musikalischer Seife.

Das aufwändige Musiktheater der beiden selbst ernannten Provokateure Kasper Toeplitz und Jean Michel Bruyère hingegen fesselte ihre Zuhörer ungefähr so lang, wie man braucht, um „Rauschen, Hundegebell, stimmungsvolle Winterlandschaft“ zu sagen.

Nennenswerte Uraufführungen gab es eher dort, wo sie keiner erwartet hätte: Beim Abschlusskonzert in der Philharmonie zum Beispiel, wo das Klangforum Wien auf den China Found Music Workshop Taipei traf und der taiwanesische Komponist Pan Hwang-Long oder der koreanische Komponist Tung Chao-Ming daran erinnerten, dass es sich lohnt, Komplexität und verspielten Ernst in Töne zu setzen, und dass die Begegnung Ost/West nichts mit Folklore und Kitsch zu tun haben muss.

Bei alledem wurde deutlich, dass der MaerzMusik auch im dritten Jahr noch ein Profil fehlt, sofern man sich mit Kategorien wie „aktueller“ oder „guter“ Musik nicht zufrieden gibt. Lediglich im Bereich der experimentellen Elektronik, mit seiner spätabendlichen „Sonic Arts Lounge“, konnte sich das Festival grundsätzlich und einschlägig behaupten. Auch wenn elektroakustische Opera regelmäßig Gefahr laufen, sich in bloßen Ästhetizismen zu verlieren. Julian Kleins „Brain Study“ gehörte gewiss zu den am perfektesten gestylten Klanginstallationen der letzten Jahre. Von den regungslos aufgebahrten Menschen bis zum düster flackernden Licht wurde man Zeuge eines unguten Science-Fiction-Szenarios, in dessen schwebender Bedrohung man sich gerne aufhielt, ohne gleich einer ästhetischen Erfahrung zu erliegen.

Dort hingegen, wo Künstler sich nicht um glatt polierte Oberflächen kümmern, wo die Geräte mit offenen Wunden gespielt werden und elektronisches Feedback zu den formalen Imponderabilien zählt, öffneten sich tatsächlich Horizonte. Der finnische Erfinder und Physiker Erkki Kurenniemi hatte in den Sechziger- und Siebzigerjahren Maschinen entwickelt, die jede Art von Strom und Zahl in Klang verwandeln und die die Klangästhetik des Minimal Techno um Jahrzehnte vorwegnehmen.

Als Kurenniemi seine alten Maschinen, gemeinsam mit dem finnischen Elektro-Duett Pan Sonic, jetzt nochmals zum Schwingen brachte, kam nicht nur ein verkannter Erfinder zur fälligen Anerkennung. Zugleich wurde die elektronische Musik um Tonnen an Klang bereichert.