: Nachsitzen wird Pflichtaufgabe
Unterricht bis nachmittags, Essen für alle: Die Ganztagsschule krempelt das Berliner Schulsystem um. Erste Modellversuche laufen seit Beginn des Schuljahres. Ein Fazit: Soziale Spannungen lassen nach
VON ANNA LEHMANN
Improvisation ist alles. Den Zuschlag zur gebundenen Ganztagsgrundschule erhielten die Spreewald- und die Brandenburg-Grundschule in Schöneberg zwei Monate vor Schuljahresbeginn. Das war im Sommer 2003. Die Freude war groß, genauso die Verwirrung. Denn gebundene Ganztagsgrundschule, das bedeutet: Schulschluss ist erst um 16 Uhr, die Kinder essen dort zu Mittag, spielen und machen Hausaufgaben. Doch gab es weder Küche noch Essraum, zu wenig Horträume und noch keine Erzieherinnen. „Wir haben uns vorläufig 200-mal Besteck von der Brandenburg-Grundschule ausgeborgt“, berichtet der Schulleiter der Spreewald-Schule, Erhard Laube. Die Schule am Winterfeldtplatz hatte die notwendigen Räume zuerst beisammen, weil sie sich auf die benachbarte Kita ausdehnen konnte. In dem bepflanzten Bau wird jetzt auch für die Brandenburg-Grundschule mitgekocht.
In Berlin soll es bis zum Jahr 2006 dreißig gebundene Ganztagsschulen geben, 19 existieren bereits. Der Bund investiert in ganz Deutschland in den Ganztagsbetrieb, 147 Millionen Euro fließen nach Berlin. In den östlichen Bezirken haben Schulhort und -essen aus DDR-Zeiten überlebt, in jedem Gebäude gibt es Mensa, Küche und Horträume. Deshalb fließt das Geld vor allem in die westlichen Bezirke und, da es nicht für alle Schulen reicht, vorrangig in Problemkieze.
„Wir hoffen sehr, dass unsere Schule dadurch attraktiver wird“, sagt Mechthild Noblé, die Leiterin der Brandenburg-Grundschule. Die Schule verzeichnete stetig sinkenden Zulauf, was dazu führte, dass sie 2003 mit der Teltow-Grundschule, die im selben Haus untergebracht war, fusionierte. 80 Prozent der 400 Schüler kommen aus Migrantenfamilien, ein kostenpflichtiges Nachmittagsangebot würden sich viele Eltern sparen, meint Noblé. Denn nur an gebundenen Ganztagsschulen ist bis 16 Uhr alles umsonst, wohingegen an anderen Schulen ab 13.30 Uhr Gebühren erhoben werden.
An der Brandenburg-Schule betreut das Nachbarschaftsheim Schöneberg seit drei Jahren einen Schülerclub für 20 Kinder. Sogar gratis. „Sonst sind die Kinder nach Schulschluss auf der Straße. Der Club wird sehr gut angenommen. Das war die Initialzündung, uns als Ganztagschule zu bewerben“, erzählt Noblé. Durch die Fusion wurden in dem roten Backsteinbau Räume frei, darunter das einstige Lehrerzimmer. Das ist jetzt der Essraum. Seit dem Herbst besuchen 42 Erstklässler den Ganztagsbetrieb, im August kommen die nächsten 50 hinzu. Viele Eltern hätten anfangs Bedenken gehabt, ihre Kleinen könnten zu lange in der Schule sein, sagt die Direktorin. Die Schule startete deshalb mit einer Mischung aus Halb- und Ganztagsangebot.
Noblé läuft voran durch die Flure: „Hier ist unser Bewegungsraum mit Kletterwand, dort haben wir einen Hausaufgabenraum eingerichtet, hier werden die Toiletten fertig gestellt, und das sind unsere Horträume.“ Alles schimmert neu, unverbraucht und bunt.
Der Start in den Ganztagsbetrieb war holprig: Das Geld wurde erst spät bewilligt, und lange war unklar, welche Erzieherinnen kommen. Schließlich schickte das Schulamt Personal aus Hellersdorf: „Die hatten bis dato noch nie Migrantenkinder betreut.“ Doch die KollegInnen rauften sich zusammen. Allmählich lassen sich auch die Eltern darauf ein: „Die Kinder sind traurig, wenn sie abgeholt werden. Aber jetzt bleiben fast alle bis 16 Uhr“, berichtet Noblé.
Ein Problem sei immer noch das Schulessen. „Einige Eltern versuchen, ihre Kinder abzumelden, und meinen, die könnten ja auch eine Stulle mehr mitnehmen“, sagt Noblé. 1,95 Euro am Tag stellten offenbar eine ernste Belastung der Haushaltskasse dar. Doch die gemeinsame Mahlzeit sei wichtig. In diesem Jahr müssen die Eltern bei der Anmeldung ihrer Kinder auf diese Bedingung eingehen.
An der Kreuzberger Alice-Salomon-Grundschule ist Schulessen noch Wunschdenken: „Was wir alles in den Papierkörben finden!“, sagt Direktor Michael Thomas und schüttelt den Kopf. Er befürwortet das Ganztagsschulkonzept allein schon aus Gründen der gesunden Ernährung und der Arbeitserleichterung. „Vor der Pause ist man als Lehrer damit beschäftigt, Trinkflaschen aufzuhebeln, weil die Kleinen das nicht schaffen.“ Doch eine Mensa ist weder in Bau noch in Planung. „Wir wissen noch gar nichts.“ Dabei sind Lehrer und Eltern der Integrationsschule ganz erpicht darauf, ebenfalls gebundene Ganztagsschule zu werden. So soll das pädagogische Konzept, das Behinderte und Nichtbehinderte Kinder integriert, konsequent bis 16 Uhr durchgesetzt werden. Alternativ könne sich die Schule auch vorstellen, mit Schülerläden zusammenzuarbeiten und einen offenen Ganztagsbetrieb anzubieten. Auf jeden Falle ganztags, meint Direktor Thomas nachdrücklich: „Der Ganztagsbetrieb krempelt unsere Schulen um. Wir brauchen ihn für eine bessere pädagogische Betreuung.“
Von den Klassenleiterinnen in der Brandenburg-Grundschule hört Mechthild Noblé die ersten Erfolge: Das Lernklima habe sich verbessert, die Hausaufgaben werden erledigt, soziale Spannung seien spürbar zurückgegangen. „Mit dem Ganztagsbetrieb schaffen wir es, dass unsere Schüler einen vernünftigen Abschluss machen“, sagt sie mit Überzeugung.