Draußen wartet das Glück

Jorinde Dröse bringt in ihrer Diplominszenierung von Sibylle Bergs „Helges Leben“, die jetzt auf Kampnagel Premiere hatte, alle Facetten einer verkorksten Biografie zum Schimmern

von KARIN LIEBE

Das Leben, ein Trauerspiel. Auch Helges Leben. Einzelkind, Bettnässer, Mutter haut ab, Vater stirbt, Helge ganz allein. Bis Tina kommt. Und da sind wir schon mitten drin im zweiten Akt von Sybille Bergs Theaterstück Helges Leben, einem Abgesang auf die Sehnsucht nach dem Glück und die Vergeblichkeit, es zu halten.

Sybille Berg ist seit ihrem Roman Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot bekannt als Spezialistin für verkorkste Leben. Ihr erstes Theaterstück könnte auch Helge sucht das Glück heißen. Jorinde Dröse hat es sich für ihre Diplominszenierung an der Hochschule für Musik und Theater ausgesucht, die jetzt auf Kampnagel Premiere hatte. Eine Wahl, zu der man sie nur beglückwünschen kann. Denn Dröse holt das Beste aus dem Science-Fiction-Splatter-Stück heraus. Souverän streicht die junge Regisseurin alle überdreht-albernen Passagen, umso stärker knallen die Schlüsselsätze.

Durchs Programm führen keine Geringeren als Gott und der Tod. Frau Gott (Silke Steffen), eine füllige Matrone mit roten Stiefelchen, singt anfangs von unerfüllter Liebe. Sie wettet mit Frau Tod (Katinka Auberger), einer zappeligen Grauhaarigen, um Helges Leben. Aber erst mal muss Helge erschaffen werden, denn Tapir (Gunnar Titzmann) und Reh (Patricia Nocon), Repräsentanten der Tierwelt, die nach dem Aussterben der Menschheit die Herrschaft auf der Erde übernommen hat, wünschen sich heute zu ihrer Erbauung „ein ganz normales kleines Menschenleben“.

„Ich bin jetzt genug schwanger“, verkündet schließlich Helges Mutter Helga (Elisabeth Müller), eine leicht intellektuell angehauchte Frauenzeitschriftenredakteurin. Gerade hat ihr Frau Gott per Schlauch den Bauch prall aufgeblasen, während Ehemann Helmut (Josef Heynert), ein biederer Speditionskaufmann, regungslos neben ihr liegt. Dann gebiert Helga auch schon, nur die gespreizten Beine ragen durch eine Pappwand. Und im nächsten Moment bricht Helge (Georg Jungermann) mit appliziertem Plüschteddy am XXL-T-Shirt aus dem Boden hervor.

Schon als Kleinkind bekommt er einen ständigen Gefährten geschenkt: die Angst. Sie taucht immer dann auf, wenn er alleine ist, später, wenn sein Vater mit ihm spricht oder die Schulkinder ihn triezen. Die personifizierte Angst verlässt ihn als Arne Angst auch dann nicht, als er Tina begegnet. Auch die trägt ihre Angst ständig bei sich, und es ist ein Wunder, dass sich die beiden Neurotiker trotz ihrer nörgelnden Einflüsterer ineinander verlieben. Aber wir sind in einem Stück von Sibylle Berg, und da ist die Liebe natürlich nicht von Dauer: Nach drei Jahren wird‘s Helge zu langweilig mit Tina. Soll das etwa schon alles gewesen sein? Seine Angst kehrt wieder, diesmal flüstert sie: Verpass nichts. Und Tinas Angst, verlassen zu werden, ist so groß, dass sie Helge verlässt, bevor er das tun kann. Schnitt. Vierter Akt. Helge ist bettlägerig und wird von einer Krankenschwester (schön fies: Josef Heynert) zu Tode gepflegt und verhöhnt. Das wars wohl. Nein, nicht ganz. Das Bergsche Dauerthema kann sich jetzt entfalten: Helge jammert, dass er nicht richtig gelebt hat. Einmal nach Indien fahren, einmal noch ein Mädchen kennen lernen. Zu spät. Frau Gott verpasst ihm noch eine Lebensweisheit – „Das Alter kommt über Nacht, und schlimm dran, wer nicht schnell genug gelebt hat“ –, dann übernimmt Frau Tod.

Eine rasante Inszenierung. So rasant, dass auch die Zuschauer nach dem Ableben Helges sofort aus dem Theater befördert werden. „Bitte gehen Sie jetzt“, nuschelt der Tapir. Jemand klatscht zaghaft, doch auch das Reh wird handgreiflich: „Draußen ist es auch schön.“ Schade, gerne hätte man dieser Inszenierung noch seinen Respekt bekundet. Aber vielleicht wartet das Glück ja da draußen auf uns.

letzte Vorstellung: 27.5, 19.30 Uhr, Kampnagel