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Archiv-Artikel

Mutmaßlicher Wille

Die Ausnahme wurde zur Regel: Über 90 Prozent der Organentnahmen erfolgen ohne Spendereinwilligung

Reklame für „Organspenden“ ist allgegenwärtig. Die große Werbekoalition reicht von Behörden, Kliniken und Krankenkassen über Verbände von Ärzten und Apothekern bis zu Selbsthilfegruppen und Prominenten. Die PR kostet viel Geld, vornehmlich Steuermittel: Allein die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) steckt seit 1998 jedes Jahr rund 1 Million Euro in ihre Kampagne „Organspende schenkt Leben“.

Mitte März präsentierte sie mal wieder neue Plakate. Eines zeigt einen Jugendlichen, darunter seine Botschaft: „Ob ich einen Organspendeausweis habe? Na klar, geht doch schon ab 16.“ Per Pressemitteilung weist die BZgA zudem auf telefonische „Repräsentativerhebungen“ hin. Das Ergebnis: „Knapp 70 Prozent der Jugendlichen und Erwachsenen in Deutschland wären mit einer Organentnahme nach ihrem Tode einverstanden.“

Die Realität in den Transplantationszentren sieht anders aus; Organentnahmen bei Patienten, denen Ärzte den irreversiblen Ausfall der Hirnfunktionen („Hirntod“) bescheinigt haben, sind meist fremdbestimmte Eingriffe. Für die bundesweite Koordination der „Spenden“ verantwortlich ist die Deutsche Stiftung Organtransplantation (DSO). Laut ihrer Statistik entnahmen Chirurgen 2003 hierzulande 1.140 „Hirntoten“ insgesamt 3.496 Organe, also durchschnittlich 3 pro Person.

Doch nur in jedem 20. Fall hatte der „Spender“ früher schriftlich erklärt, dass er mit der Entnahme von Körperteilen einverstanden sein werde. In den übrigen Fällen (94,5 %) wurde zur Regel gemacht, was das Transplantationsgesetz (TPG) als Ausnahme zulässt: Stellvertretend für den Betroffenen stimmten Angehörige zu. Sie gaben bei jedem 9. Fall an, den Willen des potenziellen „Spenders“ zu kennen. 76,8 % vermuteten, der Patient sei wohl zur Explantation bereit, 5,8 % willigten nach eigenem Gutdünken ein.

Die aktuellen Zahlen sind keine Ausreißer. Der Anteil der Organentnahmen ohne schriftliche Einwilligung des Betroffenen liegt seit Jahren bei 95 bis 96 Prozent. Diese Tatsache, die zur allseits propagierten „Selbstbestimmung“ beileibe nicht passt, schweigen Transplantationslobby und Politik einfach tot.

In ihrer Bilanz für 2003 betont die DSO lieber „einen eindrucksvollen Zuwachs“. Tatsächlich stieg die Zahl der explantierten „Hirntoten“ im Vergleich zu 2002 um rund 11 Prozent von 1.029 auf 1.140; aber 1997, also noch vor Inkrafttreten des TPG, hatte man schon 1.079 „Organspender“ registriert. Eine neue Höchstmarke meldet die DSO auch bei den realisierten Transplantationen: 2003 wechselten in deutschen Kliniken 4.164 Organe die Körper, 476 davon stammen von gesunden „Spendern“.

KLAUS-PETER GÖRLITZER