Ekstatische Weltvergessenheit

Der Melancholiker Brian Molko spielte mit seiner Band Placebo in der Columbiahalle 3.500 Menschen glücklich

„Hundert Euro“, sagt der Mann, der kann. In seiner Hand hält er eine Ware, die jetzt, wenige Minuten vor dem Auftritt der größten noch lebenden Glamrock-Band Placebo, verdammt heiß ist: Eintrittskarten. Der Junge und das Mädchen schauen verzweifelt, ziehen sich zwei Schritte zurück zur Beratung. Dann wird gewechselt. Viel Geld gegen Ticket vom Geschäftsmann, der sich dank der regen Nachfrage wie im Rosengarten des Schwarzmarktes fühlen muss. Was soll’s. Die Tür ist das Ziel, die Pforte zum Paralleluniversum dieser Nacht. Dahinter stehen schon dicht die Menschen.

Das Publikum bei Placebo ist älter geworden, brav ist es aber noch immer nicht. Enge Hosen mit Bügelfalte, schräg rasierte Frisuren und erfahren geschminkte Gesichter bei den Jungs, rot angestrichene Haare und dunkler Lippenstift bei den Mädchen. Glamrock schlägt Gothic um Längen, trotzdem ist schwarz die dominierende Farbe hier. Placebo locken die, die anders sind oder sich so fühlen. Die Columbiahalle ist jetzt ihr warmer Bauch. Alles ist bereit, es kann losgehen. Zuckende Stroboskoplichter künden vom Beginn des Bordprogramms. Der Stargast des Abends ist angekommen: Brian Molko betritt mit seiner Band die Bühne. Viele Hände strecken sich in seine Richtung. „Guten Abend, Damen und Herren“, ruft der heute sehr hell gepuderte Kopf von Placebo und legt los. „Dry your eye, soulmate dry your eye, ’cause soulmates never die“. Zartes Lächeln in den Gesichtern, die im richtigen Leben nicht zu den Grinsebacken gehören. Brian Molko und Stefan Olsdal, großer Schlacks an der zweite Gitarre, stehen im richtigen Licht, das jetzt Rot von oben und Grün von hinten präsentiert: zwei Stars oben auf der Bühne. Kleine Mädchen umarmen vor Glück die Freundin zu fest, versuchen erste Fotos.

Trotzdem fehlt etwas, es geht nicht so richtig ab. Man fragt sich, ob die Musik von Placebo auf der Bühne überhaupt richtig glücken kann. Oder ob großartige Songs wie „Every You Every Me“, „My Sweet Prince“ oder „Special K“ nicht das brauchen: ein abgedunkeltes Bett, düstere Gedanken im Kopf, düstere Stoffe im Körper und eine ähnlich verzweifelte Seele im Arm.

Als die Band nach einer Stunde die Bühne verlässt, sind die Pfiffe lauter als der Applaus. Idole dürfen nicht enttäuschen. Das ist heiliger Brauch des Popgeschäfts. Aber darin sind Placebo Profis. Sie kommen zurück. Gehen wieder. Kommen wieder. Brian, immer noch kleiner Junge, der sich aus den Images zusammensetzt, die schon Boy George und Marilyn Manson bedienen, springt auf die Boxen. Klammert sich an eine Strickleiter, hängt weit über den jetzt exstatischen Köpfen, lässt sich in die Augen schauen. Es funktioniert, 3.500 dankbare Menschen werden hier gerade ganz vorzüglich glücklich gemacht. Wir sehen einen Moment lang ekstatische Weltvergessenheit. HENNING KOBER