: Der Körpersprachen-Forscher
„Die Bühne ist ein heiliger Ort, aber auch brutal wie das jüngste Gericht“ sagt Urs Dietrich, der Leiter des Bremer Tanztheaters. Am 23. Mai wird die Bühne für Dietrich ein Ort der weltlichen Weihen – dann nämlich erhält er in Berlin den Kritikerpreis 2004
In seiner Choreographie für das Bremer Tanztheater „DoReMiFaSoLatitod“ ließ Urs Dietrich 1997 auf atemberaubende Weise vier Paare ihre Beziehungen tanzen. In seiner letzten Premiere im Dezember 2003 zeigte er in „Laren“ die Geister unserer Vergangenheit, Wesen wie Riesen, Götter, Ungeheuer und Elben, die fliegen, schleichen, trampeln ... In diesen beiden Stücken und den vielen dazwischen hat Dietrich mit einem Stilmittel gearbeitet, das er mit immer stärkerer Konsequenz nach wie vor verfolgt: nach der Sprache des Körpers zu forschen, jeder seelischen Regung auf der Stelle einen Bewegungswechsel und damit einen Ausdruckswechsel folgen zu lassen. Am 23. Mai erhält er in Berlin für sein tänzerisches und choreographisches Werk den Kritkerpreis für Tanz des Jahres 2004.
Urs Dietrich wurde 1958 in der Schweiz geboren und entdeckte nach einer Ausbildung zum Textildesigner erst als junger Erwachsener seine Leidenschaft für den Tanz. Arbeit an sich selbst bis zum Zusammenbruch und die Förderung durch Menschen, die seine Begabung erkannten, machten das Unmögliche möglich: im Alter von 23 bis 27 Jahren studierte er an der Folkwanghochschule in Essen. Dort schon machte er 1984 seine ersten Choreographien wie „Hiob“.
Gemeinsam mit Susanne Linke leitete er von 1994 bis 1996 das Bremer Tanztheater, und zwar als Nachfolger von Reinhild Hofmann, Gerhard Bohner und Hans Kresnik – eine enorme Herausforderung. Seit dem Jahr 2000 ist Urs Dietrich alleiniger Leiter des Bremer Tanztheaters, dessen Ruf er nachhaltig in die Welt trägt. Drei der damaligen Tänzer hat er übernommen, neun neue sind dazugekommen. Es spricht für das Zusammenwachsen der Gruppe, dass es seitdem fast keine Fluktuation mehr gab: „Es besteht zwischen uns ein grundsätzliches Vertrauen“, sagt Tom Bünger, „ein guter Tänzer sein ist das eine, ein gutes Ensemble zu sein, ist etwas ganz anderes“. Bünger schätzt an Dietrich seine „Genauigkeit, was Bewegung erzählen kann“. Und Bünger schätzt, dass Dietrich den TänzerInnen ihre Persönlichkeiten lässt, aber es trotzdem schafft, in der fertigen Choreographie wieder von den TänzerInnen zu abstrahieren.
„Die Bühne ist ein heiliger Ort, aber auch brutal wie das jüngste Gericht“, hat Dietrich einmal gesagt, und noch heute hat er „jedesmal große Angst“. „Clip“, das am 14. Mai Premiere hat, wird geprobt: die Choreographie will einen Raum entwickeln mit filmischen Schnitten und Spots. Eine ausführliche Diskussion entsteht über die Wechsel von einem Bild zum anderen, alle sagen was. Dietrich: „Ich mach Euch morgen einen Vorschlag“.
Es ist die intensive Wahrnehmung von Sachverhalten und Stimmungen, die Dietrich in Bewegung umzusetzen in der Lage ist. Eine Fähigkeit, die seine künstlerische Mitarbeiterin Brigitte Schulte-Hofkrüger besonders schätzt: „Am schönsten sind seine Übergänge, wie er es schafft, Energiebögen zu gestalten.“
Auf die Frage, wo denn die neuen Ideen herkommen, weiß er keine Antwort. „Geschichten, Situationen, Musik, Empfindungen... aber das ist ungeheuer komplex und am Ende erkennt man oft den Ausgangspunkt nicht mehr, weil in der konkreten Arbeit was anderes daraus geworden ist.“ Trotzdem beginnt jede Arbeit mit einer ziemlich genauen Vorstellung. Dann werden die Persönlichkeiten der TänzerInnen aufgenommen: Das hat nichts mit Demokratie zu tun, sondern mit einer Auffassung des Tanzes, nach der eine Bewegung immer ein höchst individuelles Phänomen ist und nicht verordnet werden kann. Fünf TänzerInnen haben beim letzten Tanzfestival eigene Arbeiten von großer Eigenständigkeit vorgestellt. Dietrich fühlt sich dafür verantwortlich: „Ich mache da so eine Art Coaching“.
Was mag er nicht im neuen Tanz? „Ich habe keine Urteile über andere Stile. Ich verlange nur Ehrlichkeit und Identifikation, dann wird es auch überzeugend“. Und Tom Bünger: „Ich finde so toll, dass er so unabhängig von Trends ist, dass er so konsequent seinen Weg verfolgt.“
Noch hat es kein Stück bei Dietrich gegeben, in dem man das Gefühl gehabt hätte, es würde sich erschöpfen. Nicht zu unterschätzen ist dabei die Kraft, die nach wie vor aus dem eigenen Tanzen kommt. Besonders unvergesslich: Dietrichs Mr. Bean/Beckett-Figur in „Am Ende des Tages“ (1999).
Ute Schalz-Laurenze