: „Man fühlt sich nicht Gott näher“
Interview HARTMUT METZ
taz: Herr Messner, was macht den Reiz des Mount Everest aus? Liegt es einfach nur daran, dass er mit 8.850 Meter Höhe das Dach der Welt ist?
Reinhold Messner: Der Mythos wird heutzutage einerseits geprägt von der Historie, wenn man an die Figuren wie George Mallory, der 1924 dort oben verschwunden ist, oder Hillary denkt. Andererseits ist er der höchste Gipfel der Welt und das Ziel eines jeden Bergsteigers. Der Everest ist heute ja im Reisebüro buchbar, alles inklusive bis hin zu Sauerstoffdepots am Gipfel. Damit wurde er zugänglich für jedermann, büßte allerdings auch an Flair ein. Für die extremen Kletterer besitzt er keine besondere Ausstrahlung mehr.
Heute jährt sich zum 50. Mal die Erstbesteigung des Mount Everest durch Hillary und Tenzing. Wie bewerten Sie diese Leistung?
Es gingen dreißig Jahre Versuche voraus, bei denen vor allem die Briten zuerst den Gipfel erreichen wollten. Sie gedachten dadurch eine Scharte auszuwetzen, nachdem sie trotz enormer Anstrengungen den Nordpol nicht erreichten. Am Südpol kamen sie einen Monat zu spät nach dem Norweger Amundsen. Deshalb stilisierten sie den Everest zum dritten Pol. Ein Schweizer Team um Raymond Lambert war 1952 schon hoch droben auf 8.600 Metern. Nachdem die Engländer Tom Bourdillon und Charles Evans 1953 bis zum Südgipfel kamen und knapp vor dem Gipfel scheiterten, kam drei Tage später ihr bester Mann zum Zug: Edmund Hillary. Ein Neuseeländer, der wusste, dass Sherpa Tenzing der stärkste Mann im Team war; zäh, ausdauernd, der beste Kletterer. Sie waren dann zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Zudem besaß Hillary die Gabe zu wagen, über das hinauszugehen, was früher denkbar war. Dieser Mann war der prädestinierte Gipfel-Sieger. Doch damit standen keine Engländer, sondern ein Bienenzüchter aus Neuseeland und ein Sherpa aus Darjeeling auf dem Gipfel.
Welche Gefühle durchfluten einen da oben?
Da ist kein Platz für Euphorie, dafür fehlt die Zeit und ist auch keine Kraft da. Es plagen einen eher Angst und Zweifel, ob man den Abstieg auch schafft. Das Gehirn ist wie mit Watte gefüllt, das Empfinden ähnelt dem Erwachen aus Narkose. Man fühlt sich nicht Gott näher, schließlich sind 8.850 Meter keine besondere Entfernung. Die Erkenntnisse auf dem Gipfel des Mount Everests sind für die Menschheit ohnehin irrelevant. Ob da oben jemand steht oder nicht, spielt keine Rolle.
Sie haben 1978 den Everest ohne Sauerstoffmaske bestiegen.
Mediziner und Bergsteiger meinten, dies sei unmöglich. Beim Aufstieg ohne Maske kam es darauf an, dieses Tabu zu brechen. Es gab viel Kritik. Einen Teil meiner Energie sog ich daraus, dass dieser Widerstand herrschte. Andererseits lastete der aber auch auf mir. Insgesamt sorgte das dann jedoch ebenso für den großen Erfolg, weil alle „unmöglich, unmöglich“ posaunt hatten und danach die Leistung als „großartig“ empfanden. Diese Everest-Besteigung spielt eine Rolle, ist aber keine wesentliche Expedition in meinem Leben. Ich machte schwierigere Sachen.
Zum Beispiel?
Der Alleingang zwei Jahre später war viel schwieriger und anstrengender. Noch schwierigere Touren waren die Besteigung des Nanga Parbat über die Rupal-Wand und die Doppel-Überschreitung von zwei Achttausendern. Oder auch die Nordwand-Route, die ich am Kangchendzönga, dem dritthöchsten Berg der Welt, nahm. Der Everest spielte für mich eine Rolle, weil mich das endgültig über den Kreis der Bergsteiger hinaus bekannt machte. Ob das notwendig war, ist eine andere Frage.
Hillary sagte nach der Erstbesteigung: „Wir haben den Bastard erledigt!“ Fühlten auch Sie, einen „Feind“ bezwungen zu haben?
Nein, auch Hillary hat das nicht so grob gemeint, wie es klingt. Der Everest war nicht als Feind gedacht. Hillary ist ein sehr feinfühliger Mann.
Welcher Ruhm ist der größere? Ihrer, unter anderem als Bezwinger aller 14 Achttausender, oder der von Hillary?
Weltweit gesehen ist Hillary mit Sicherheit bekannter als ich. Das ist auch gut so und gerecht. Er hat in einer Zeit, als die Berge noch eine ganz andere Ausstrahlung hatten, das höchste aller Ziele erreicht. Das war zwar auch damals nicht die schwierigste Tour – die Erstbesteigung des Nanga Parbat 1953 durch Hermann Buhl war die größere Leistung –, aber die Erstbesteigung des Everest bleibt die Sternstunde des Alpinismus! Fußballspieler oder Boxer sind bekannter als ein Bergsteiger, dem im Moment seiner Aktion das Publikum versagt bleibt. Dafür bleibt er länger in der Geschichte. Hillary erbrachte zudem eine große soziale Leistung, indem er den Sherpas half und Spitäler mit seiner Stiftung baute. Ich halte auch jedes Jahr ein paar Vorträge zugunsten der Hillary-Stiftung. Diese Arbeit von ihm ist noch höher einzuschätzen als seine Erstbesteigung.
Sie brauchten hoch auf die letzten Meter keine Sherpas. Bei der Erstbesteigung und auch danach geriet der 1986 verstorbene Tenzing Norgay völlig in den Hintergrund. Unverdient? Dabei müssen Sherpas doch während der Expedition meist die schwerere Arbeit verrichten.
Die Tenzing-Geschichte wird jetzt langsam aufgeklärt. Er erlebte eine katastrophale Kindheit. Er ist im Norden des Everest, im damaligen Tibet, geboren. Seine Familie war so arm, dass ihn der Vater mit acht Jahren über einen Sechstausender gebracht hat und in Nepal wie ein Sklavenkind an Sherpas verkaufte. Dort hatte er im Sommer in den Bergen die Yaks zu hüten. Die Sherpas behandelten ihn so schlecht, dass er floh. Er ging nach Darjeeling, weil er hörte, dass die Engländer von dort zum Everest aufbrechen. Ab Mitte der Dreißigerjahre nahmen sie ihn immer als Sherpa-Helfer, als Küchenjunge, mit. Später wurde er der stärkste Sherpa, auch auf Grund dieser fast dramatisch-tragischen Kindheit. 1952 war er Sherpa-Chef der Schweizer. Tenzing war so motiviert, so gut in der Logistik und als Bergsteiger, dass ihn die Eidgenossen sofort als einen gleichwertigen Kameraden anerkannten. Lambert machte seinen Gipfelversuch 1952 mit ihm.
Bei den Engländern war der Inder dann weniger akzeptiert, oder?
Die Engländer integrierten ihn als Sherpa-Chef nicht so großzügig in die weiße Mannschaft. Als sie aber zu scheitern drohten, erkannten sie endlich: Das ist der richtige Mann. Tenzings Enkel, der alles studierte und Vorträge hält, erklärte: Am schwierigsten Stück zum Gipfelgrat ist Hillary vorausgestiegen. Ohne den Rücken von Tenzing wäre er aber nicht raufgekommen. Da ist etwas Wahres dran. Es ist eindeutig, dass Hillary am Gipfelgrat vorausging, und es ist eindeutig, dass er als Erster am Gipfel war. Es gibt jedoch nur ein Gipfelbild von Tenzing, weil Hillary sich nicht selbst fotografieren konnte. Selbstauslöser wäre zu kompliziert gewesen, und Tenzing konnte nicht einmal mit einer Kamera umgehen. Hillary scherzte: „Der Everest-Gipfel war der falsche Ort, um ihm das beizubringen.“ Die Inder versuchten danach, Tenzing zum eigentlichen Helden zu machen – das wäre aber auch ungerecht gewesen. Hillary bemühte sich zusammen mit Expeditionsleiter George Hunt, dass alle drei gleich im Mittelpunkt standen. Auf die Dauer eines Lebens gesehen bekam Hillary natürlich einen viel größeren Namen als Tenzing: durch seine Wortgewandtheit, seine Vorträge, sein soziales Engagement und seine weiteren Expeditionen wie an den Südpol. Tenzing konnte weder lesen noch schreiben und stammte nicht aus einem hoch entwickelten Land wie Hillary. Später bildete sich Tenzing ganz gut weiter, trotzdem lebte er am Ende unglücklich und fühlte sich verkannt. Der Ruhm ist dennoch nicht ungerecht verteilt. Sicher ist aber auch: Nur die Summe der beiden machte ihnen den erfolgreichen Aufstieg möglich.
Reizt Sie der Mount Everest heute noch?
Auf einer schwierigen Route, die noch nie geklettert wurde, hätte ich mit meinen 58 Jahren wohl nicht mehr allzu viele Chancen. Vor allem nicht ohne Maske – und mit Maske würde ich es schon gar nicht versuchen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen