Sprache junger Migranten: Gewalt

Abdulkerim Sari, Sozialpädagoge und Sprecher der Islamischen Föderation in Bremen, fordert in seinem Gastbeitrag das Ende der Tabuisierung: Bei der Debatte über die Gewalttätigkeit junger Einwanderer sollten auch Muslime offen mitreden, sagt er

Jugendarbeit in Moscheen darf nicht länger in eine „dunkle Ecke“ gerückt werden

von Abdulkerim Ugur Sari

taz ■ Bremer Muslime müssen neu nachdenken. Ob wegen des Bremer Jugendlichen Murat K., der als 19-Jähriger vor eineinhalb Jahren offenbar in Pakistan festgenommen wurde und jetzt in Guantánamo einsitzt, oder nach der aktuellen Busentführung durch den eingebürgerten 17-jährigen Ali Marwan T. – beide Fälle zeigen, dass die Sorge, in Zukunft werde es weitere spektakuläre Gewaltakte verwirrter junger Menschen geben, äußerst ernst zu nehmen ist.

Auch die Gewaltaktionen am 1. Mai in Berlin, bei denen offenbar türkische Jugendgruppen eine wichtige Rolle gespielt haben (die taz berichtete), sollten uns alle – Muslime wie Nichtmuslime, Migranten wie Nichtmigranten – veranlassen zu fragen, was wir falsch gemacht haben könnten oder was wir wohl falsch machen.

Ob es das Abzocken im Schulhof ist oder die Anmache in der Diskothek: Das Thema Gewalt unter Migrantenkindern, das wir lange Zeit als „Vorurteil“ oder gar als „Fremdenfeindlichkeit“ beurteilt haben, muss unter die Lupe genommen und analysiert werden.

Besserwisserische Antworten jener, die da glauben, einen kulturellen Hintergrund erkannt zu haben, werden dem Problem nicht gerecht und führen uns auch nicht weiter. Wir können den Grund dieser Gewalt weder in der Kultur noch in der Religion sehen. Und wer das Problem im Elternhaus sucht, hört verzweifelte türkische Eltern sagen: „Es sind doch nicht unsere Kinder, es sind die Kinder dieser Gesellschaft. Mit unserer Generation habt ihr doch nie solche Probleme gehabt.“

Politische oder religiöse Ereignisse können vielleicht eine bereits vorhandene Gewaltbereitschaft auslösen, müssen aber nicht unbedingt deren Ursache sein. Bei jeder Diskussion müssen wir Verallgemeinerungen und Pauschalisierung vermeiden. Das Thema Jugend und Gewalt ist nicht nur ein Problem von Migrantenkindern, von denen sicher nur ein kleiner Teil in Berührung mit Gewalt kommt.

Vergessen wir nicht, dass jede Handlung auch eine Sprache hat. Was wollen uns die Jugendlichen sagen? Möchten sie Aufmerksamkeit erlangen – und wenn ja, warum? Suchen sie vielleicht nach gesellschaftlicher Anerkennung? Ist es eine Überreaktion – aus einem Minderwertigkeitskomplex heraus? Ist es die Opferrolle, die zu Gewaltaktionen führt?

Das Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen (KFN) kommt in seiner Studie zur Struktur und Entwicklung der Jugendgewalt in Deutschland (*1) zu dem Ergebnis, dass die Zunahme von Jugendgewalt in engem Zusammenhang damit steht, dass unsere Gesellschaft immer mehr zu einer winner / loser-Kultur wird. Vor allem junge Migranten geraten dabei in ein soziales Abseits. Der Anstieg der Jugendgewalt sei überwiegend jenen jungen Migranten zuzurechnen, die sozial nicht integriert werden konnten.

Junge Zuwanderer, die seit längerem in Deutschland unter Bedingungen sozialer Benachteiligungen aufwachsen, bildeten eine besondere Problemgruppe. Dass die beiden oben genannten als Extremisten verdächtigten Bremer dabei eine Lehrstelle oder einen Ausbildungsplatz hatten, bedarf einer besonderen Betrachtung. Es wird sich nicht auf Anhieb klären lassen. Doch könnte ein Erklärungsansatz die Annahme sein, dass das subjektive Gefühl, als Einwanderer benachteiligt zu werden, nicht unbedingt durch Ausbildung oder andere „Äußerlichkeiten“ überwunden oder aufgehoben werden kann.

Aber auch wir Muslime müssen unsere Jugendarbeit neu bewerten. Die Konzepte von Jugendarbeit in den Moscheen – die leider bisher keine öffentliche Anerkennung gefunden hat – müssen hinterfragt werden. Die Moscheen müssen sich öffnen und auch eingestehen, dass sie die Erfahrung und Hilfe der Gesamtgesellschaft und ihrer Einrichtungen benötigen. Aber auch die deutsche Gesellschaft muss langsam ein Interesse für die Jugendarbeit in den Moscheen entwickeln und eine Bereitschaft für eine Zusammenarbeit signalisieren. Die Arbeit in den Moscheen generell in eine „dunkle Ecke“ zu rücken und sie als Indoktrinierungsversuche Religiöser abzustempeln, wie dies in der politischen Debatte öfters geschah, muss der Vergangenheit angehören. Die vom Zentralinstitut Islam-Archiv Deutschland vertretene These, dass allein die Moscheen ein wirksames „Bollwerk gegen den aufkeimenden religiösen Extremismus und Fanatismus“ seien, sollte zumindest zum Nachdenken anregen (*2).

Besonders lobenswert ist in diesem Zusammenhang das bundesweit einzigartige Mannheimer Modell. „Perspektiven schaffen für muslimische Jugendliche“ lautet das Motto des Projektes. Es will die Kinder- und Jugendarbeit in den Moscheen in die gesamtgesellschaftliche Verantwortung im Bereich der außerschulischen Kinder- und Jugenderziehungsarbeit einbeziehen (*3). Sonst würde sie „abgekapselt und isoliert von den bestehenden kommunalen Strukturen nur wenig Integrationskraft“ entwickeln. Wichtig scheint mir bei diesem Projekt ganz besonders der Aufbau einer Kommunikations- und Austauschstruktur zwischen pädagogischen Einrichtungen mit unterschiedlichen konfessionellen oder kulturellen Ausrichtungen zu sein. Genau dieser Erfahrungsaustausch ist auch notwendig, um Antworten auf gesellschaftliche Fragen zu finden und um den betroffenen Jugendlichen gemeinsam eine bessere Perspektive bieten zu können. Es ist längst an der Zeit, dass wir uns dem Problem Gewalt unter Migrantenkindern widmen. Denn Gewalt darf nicht die Sprache der Verlierer sein.

(*1) Zur Struktur und Entwicklung der Jugendgewalt in Deutschland – Ein Thesenpapier auf Basis aktueller Forschungsbefunde, von Christian Pfeiffer und Peter Wetzels. Kriminologische Forschungsinstitut Niedersachsen, Hannover, 1998. (*2) In Deutschland angekommen. Befragung muslimischer Jugendlicher zur Vereinbarkeit von Religion und Gewalt. Moslemische Revue, Heft 3/2000. (*3) Kontakt: T. Kamran, Leiter des Instituts für Deutsch-Türkische Integrationsstudien und interreligiöse Arbeit e.V., ☎ 0621 / 10 59 90, E-Mail: institut-interreligioes@t-online.de