: Ohne Russenmädel
Grausame Härte des Showbusiness: In einer Marzahner Mehrzweckhalle feierten knapp 200 Rentner den Senioren-Grand-Prix „Goldener Herbst“
von KIRSTEN KÜPPERS
Etwa 200 Senioren waren da. Sie haben sich ihre hellen Sommerkleider angezogen und sind herüber gelaufen zur Mehrzweckhalle im Viertel, die Älteren untergehakt bei den Jüngeren, die auch schon über 55 sind. Anderswo sitzen die Menschen an diesem Nachmittag in der Sonne und trinken kühle Getränke. Aber hier im Marzahner Hochhausviertel haben sich die Rentner aufgemacht und sind gekommen. Es ist ihre Veranstaltung. Auch wenn es das Fernsehen nicht interessiert, auch wenn kein wirklich Prominenter da ist, kein Ralph Siegel und kein Dieter Bohlen, sondern nur eine blasse Miss Thüringen, dann zeigt das Ereignis doch, dass man noch nicht vergessen ist in dieser Welt. Ein Lebenszeichen direkt aus dem Nordosten der Stadt.
Am vergangenen Sonntag fand im Freizeitforum Marzahn der „Senioren Grand Prix“ statt. Bei der Veranstaltung mit dem versöhnlichen Untertitel „Goldener Herbst“ handelte es sich um die bundesweite Ausscheidung. Zwölf Finalisten nahmen an der Senioren-Talente-Show teil. Alle kamen sie aus den neuen Bundesländern und Ostberlin. Ein richtig ernst gemeinter Grand Prix sollte es werden. Mit einem Moderator und einer Jury. Unverfälscht und frei von ironischen Experimenten. Ohne Nussecken, Homosexuelle, Spaßmacher oder russische Mädchen. Eine einfache, saubere Idee.
Um 15 Uhr konnte man dann hinten bei den Garderoben die Künstler vor ihrem Auftritt erleben, aufgeregt, in fiebriger Nervosität. Die Stepptänzerinnen von der Gymnastik-Gruppe Fortuna Biesdorf e. V. klappern den Flur herunter. Akkordeons werden umgeschnallt, Paillettenwesten angezogen. Edgar Jaschob, früher Industriekaufmann, jetzt Renter und Geigenspieler in Hellersdorf, steigt angespannt von einem Bein aufs nächste, die Füße sind noch in Strümpfen. Eine Frau im langen Abendkleid trinkt Sekt aus der Flasche. Im Saal klettert der Moderator auf die Bühne, im Publikum werden die Fotoapparate ausgepackt.
Was folgt, ist alles: Große Gefühle, Pathos, Liebe, Schmerz, Heimatverbundenheit. Das ganze vergangene Leben zusammengeschnürt und hereingetragen in die Glitzerwelt einer Mehrzweckhalle in Marzahn. Eine Mezzosopranistin singt eine Arie, eine Frau mit Strohhut erzählt ein Gedicht in Thüringer Mundart, eine Junggebliebene im Jeanshemd steppt mit zu einem Fünfzigerjahre-Schlager über die Bühne, die 15-köpfige Musikantengruppe spielt das Mecklenburger Lied, Volkstänze werden praktiziert, ein Mann bläst Mundharmonika.
Und so wie die Finalisten ihr Programm absolvieren, wie einer nach dem anderen ans Mikrofon tritt, so klappt der ganze Nachmittag als schöne Form der Selbstbehauptung. Die Gäste wiegen mit dem Kopf, einzelne singen mit. Und als Edgar Jaschob zu „An der schönen blauen Donau“ anhebt, stehen einige auf und fangen an zu tanzen.
Genutzt hat es dem Geiger nichts. Die Jury, bestehend aus der Miss Thüringen, dem Mitarbeiter eines Reisebüros sowie einem Redakteur der Zeitschrift Super Illu entscheidet anders. Es ist die Mezzosopranistin, die den Siegerpokal nach Hause trägt. Der Geiger Edgar landet auf dem letzten Platz. Als Trostpreis bekommt er eine Urkunde, ein Jahresabonnement der Zeitschrift Spätsommer, dazu ein Präsent des Märkischen Honigvereins. Der Keyborder spielt die ersten Takte einer traurigen Melodie, dann noch ein Gruppenfoto – das war’s.
Ein Tag, der für Edgar Jaschob kein guter mehr wird. Niedergeschlagen läuft er hinter die Dekoration, sein Instrument hält er im Arm wie ein Baby. Er sagt, man müsse sich jetzt schon überlegen, ob man was ändert an der eigenen Bühnenpräsenz. Und da ist sie wieder zu erleben: die grausame Härte des Showbusiness. Wie sie auch in einer Halle in Marzahn mit aller Wucht und Ungerechtigkeit auf die Menschen herniedergeht. Wie sie Gräben zieht zwischen den kleinen Leuten mit Geige und den großen Sängerinnen draußen im Licht.