: Erinnerungsspuren freigelegt
Bedachtsam zelebrierte Melancholie von Bildern, die die Gegenwart überblenden: Maxim Biller entwickelt im Erzählband „Bernsteintage“, aus dem er jetzt in Kiel und Hamburg liest, einen gänzlich neuen Tonfall
In ihrem Buch Film und Verhängnis setzt Ilse Aichinger die Erinnerung mit dem Film in Bezug: Wie ein Film könne diese „reißen, stocken oder ausbleiben“, sich ablagern wie „entscheidende Fetzen von Filmen“, und zugleich dürfe und könne sie sich nie vollkommen begreifen: „Die Erinnerung splittert leicht, wenn man sie zu beherrschen versucht.“
Alle Figuren in Maxim Billers neuem Erzählband Bernsteintage, den er jetzt in Kiel und Hamburg vorstellen wird, sehen sich mit diesen Eigenschaften der Erinnerung konfrontiert. Meist ist es der „Film“ ihrer Kindheit oder Jugend, der irgendwann gerissen ist, dessen Bilder lange unbeachtet blieben und die dann unvermittelt wieder auftauchen und die Gegenwart überblenden: Gewaltsam, bedrohlich, zumindest verunsichernd greift die Vergangenheit in die Gegenwart hinein. „An seinem Schreibtisch war alles noch so, wie es sein sollte, wie es immer schon war, seit über dreißig Jahren zumindest. Ein paar Meter weiter begann der Abgrund.“
Der Abgrund, der sich in der Erzählung „Elsbeth liebt Ernst“ öffnet: Während des Zweiten Weltkriegs hat Ernst, der inzwischen bekannte Autor, ein Nazi-gefälliges Hörspiel verfasst. Am Tag, an dem Billers Erzählung einsetzt, ist in allen Zeitungen von dieser fragwürdigen Verstrickung des Protagonisten die Rede. Nun wartet er auf die Ankunft seiner jüdischen Frau, die er nach dem Krieg kennen gelernt hatte, bekannt schon damals durch ihr „Kriegsbuch“. Die aufgezwungene Erinnerung setzt andere Erinnerungsspuren frei: wie sie sich kennen lernten, Bilder aus dem Krieg, Blitzlichter seiner Karriere.
Leise und bedachtsam erzählt Biller. Er entwirft Dialoge, aufgeladen mit fragender Erwartung, welche die in der Schwebe bleibende Rede beider Figuren nicht einlöst. Am Ende wird Elsbeth bleiben. Das Warum vermittelt sich im Tonfall und in den Sätzen, die gerade nicht zu Ende gesprochen werden können: eine Verbindung, eine Liebe, deren Grund gewiss, aber nicht benennbar ist. Dieser bei Biller neue Tonfall, das fast Sanfte, manchmal Melancholische durchzieht alle Geschichten. Der Immobilienmakler Hadi in „Ein ganz normles Leben“ etwa glaubt bei einem Badeausflug mit Frau und Kindern ständig seine frühere Familie zu sehen, die er bei einem Attentat verloren hat. Fremdheit schiebt sich zwischen ihn und die, die tatsächlich um ihn sind. Und Henry wiederum arbeitet sich in „Der echte Liebermann“ an seinem Vater ab, der als Jude andere Juden betrogen hat. Von Henrys Kindheit erfährt man wenig Konkretes, aber man ahnt ihre Wirkmacht, die sich hinter der Oberfläche seines getriebenen Agierens verbirgt.
Als Kind, so Biller in einem Interview, sei „man das totale Medium fürs Leben“, und er vermutet, dass aufgrund dieses „medialen Charakters“ diese Zeit so tief wirkt. Ein verklärender Blick aber eignet ihm nicht. Vielmehr ist er auch der Unzuverlässigkeit von Erinnerung auf der Spur und greift in der Erzählung „Wenn der Kater kommt“ selbst zur Assoziation mit dem Film. Der junge Filmemacher Marek erinnert sich nicht nur in Filmsequenzen, sondern entwirft auch seine Zukunft in filmischen Bildern.
Einzig in der Geschichte, die dem Band seinen Titel gibt, erscheint ein kleiner Ausschnitt Kindheit wie ein abrupt entrissenes Stück Paradies, wobei die Vertreibung erst viel später begreifbar wird. Ein Sommer in Tschechien, der etwa zehnjährige David genießt den Kuraufenthalt mit zwei Freunden. Es ist der Sommer 1968, die Panzer rollen ein, die Familie verlässt das Land. David betrachtet am letzten Abend sein Kinderzimmer: „Einen Krieg, dachte er, bevor er die Augen schloß, hatte er sich immer ganz anders vorgestellt. Einen Krieg überstand man ja wie nichts.“ Carola Ebeling
Maxim Biller: „Bernsteintage“. Köln 2004, 204 S., 19,90 Euro Lesungen: 15.4., 20 Uhr, Kiel (Universitätsbuchhandlung Mühlau); 16. 4., 19.30 Uhr, Hamburg (Speicherstadtmuseum)