: Das Freilichtmuseum schließt die Pforten
Am 1. Mai wird Großes geschehen, doch echtes Pathos will nicht aufkommen am Vorabend der EU-Osterweiterung. Die westlichen Öffentlichkeiten schaffen es nicht, die historische Dimension des Geschehens zu würdigen. Liegt es daran, dass sie an ihrem eigenen Traum vom Osten festhalten?
VON ROBERT MISIK
Als im Verlauf des Jahres 1989 die osteuropäischen KP-Regimes nacheinander fielen, erfüllte sich auch ein westeuropäischer Traum – ein Traum, der vielleicht gar nicht in einem engen Sinn politisch war. Die Landstriche jenseits dessen, was bis dahin der Eiserne Vorhang war, waren in den Jahren davor mythologische Regionen geworden, eine Art europäisches Arkadien. Eine seltsame Sehnsucht nach dem Osten hatte sich in den Achtzigerjahren ausgebreitet – erst kaum spürbar, dann nicht mehr übersehbar. Aufgeklärte Konservative begannen von „Mitteleuropa“ zu schwadronieren. Man fantasierte über die Boheme der Zwanzigerjahre, und das war nicht nur eine Sehnsucht nach einer anderen Zeit, sondern auch nach einem anderen Zeitmaß – nach einer Epoche, in der Innenstädte keine Businessorte waren, nach ungeschrubbten Straßenpflastern und nach einer Art von Echtheit, die in den westeuropäischen Metropolen mit ihren Stahl-Glas-Bauten ebenso verloren gegangen war wie in den mit Touristenkitsch überzogenen Innenstadtquartieren.
So erfüllte sich ein Traum, als die Stacheldrahtverhaue durchschnitten wurden. Es begann damit, dass echte Revolutionäre – nicht selten noch dazu Intellektuelle – die alte Ordnung ins Wanken gebracht hatten. In Prag etwa war die Revolutionszentrale in der „Laterna magica“ untergebracht, einem alten Kellertheater, und durch die Gänge und Garderoben wuselten Mittvierziger mit Schnauz- und Vollbärten, dicken Wollpullovern und grünen Parkas um Leute wie Václav Havel und Jiri Dienstbier.
Welche Heiterkeit herrschte bei den Massendemonstrationen, aber auch abseits. „Kommunist kaputt“, lachte ein Taxichauffeur auf, während er der Direktübertragung von einer Krisensitzung der Prager Kommunisten lauschte. „Haben Sie das verstanden? Der Kommunist hat seine Parteichefs gerade ,zittrige, kranke Greise‘ genannt.“ Noch einmal brüllte er auf und klatschte sich mit den Handflächen auf die Oberschenkel.
Denke ich an die erste Hälfte der Neunzigerjahre, dann erinnere ich mich vor allem an Orte und an Menschen, die irgendwie lose an diese Orte angeschlossen waren, nicht selten durch sie hindurchgingen, an Reisende und an flüchtige Begegnungen: etwa an den alten Mann im „Café Müvesz“ in der Budapester Andrássy út, schräg gegenüber dem Opernhaus, der fest in seine Schokoladentorte beißt, während er sagt: „Es wird eine Katastrophe geben.“ Ein paar Krümel kleben an seinem Schnauzbart, während er fortfährt: „Alles ist zusammengebrochen. Die Welt wird untergehen.“ Derweil blickte er in den Wirtschaftsteil der Zeitungen. „Die Peseta fällt seit einer Woche“, erklärte er. „Man verliert sein Geld schneller, als man es ausgeben kann.“ Dann blickte er aus dem Fenster und sagte: „Früher waren das die Champs-Élysées von Budapest.“
Oder, im Zug von Berlin nach Prag, an den 70-jährigen Amerikaner, der in Deutschland geboren wurde, das Land aber 1936 verlassen hat, mehr dazu aber nicht sagen will, als dass das „aus guten Gründen“ geschehen sei. Während der Zug durch das Erzgebirge nach Böhmen fährt, blickt er aus dem Fenster und fragt seinen Sohn: „Was ist das für ein Fluss?“ – „Die Elbe“, antwortet dieser. „Da war ich 1945“, sagt der Vater plötzlich. „Hier trafen wir uns mit der sowjetischen Armee.“ Als er das letzte Mal in diesen Landstrich gekommen war, hatte er die Uniform der US-Army an.
Und ich erinnere mich an den Geschäftsmann aus Bremen frühmorgens im Tragflügelboot, das uns entlang den Schilfgürteln der Kurischen Nehrung von Danzig nach Königsberg brachte. Während er sich Whisky in die Fanta-Dose schüttete, erzählte er, dass er Metallmüll aus dem Osten importiere, in Deutschland wiederverwerte und am Weltmarkt mit Gewinn verkaufe. „Eines der wenigen Geschäfte, die man zurzeit in Russland machen kann. Schrott haben die mehr als genug.“
Begegnungen wie diese, von denen es wohl tausende und abertausende gab, bestimmten den westlichen Europadiskurs und bestimmen ihn immer noch – und er ist keine exklusive Eigenart westeuropäischer „Diskursjockeys“. Hinter den sozialistischen Akronymrepubliken tauchten plötzlich historische Regionen auf, und sie boten ein Bild, als wären sie ein paar Jahrzehnte in einem großen kontinentalen Kühlschrank tiefgefroren gewesen: Böhmen, Schlesien, Ostpreußen.
So berichtete unlängst der polnische Schriftseller Andrzej Stasiuk von einem Besuch in der Ostslowakei. Von der Höhe der Stadtmauer aus sah er „die Höfe, Gärten, Hintereingänge, Karnickelkäfige, Hühnerställe, Hundehütten, all das, was eine Kleinstadt lieber nicht zeigt, diese ganze Dörflichkeit, die sie in einen begrenzten, möglichst kleinen Raum zu pferchen versucht. Das war ein sanftes Schlachtfeld, ein schläfriger Sauhaufen, die Reste einst begonnener und nie vollendeter Unternehmungen, Stapel und Haufen von Dingen, die sich unmerklich in Müllhalden verwandelten, Folienfetzen, Kompost, Fallobst, Hühnerverschläge, Kräuter, ausgetretene Pfade, eine Art ewiger Gegenwart, die da im Schatten der Nuss- und Kirschbäume kauerte.“
Diese Erzählung handelt von der melancholischen Liebe zu morschen Kastenfenstern, bröckelndem Kalkputz, moosbewachsenen Dachschindeln. Währenddessen träumen die Menschen in diesen Häusern nicht selten von Plastikfenstern mit Dichtheitszertifikat, Isolierputz und industriell gefertigten Badezimmerfliesen. Und um diese Differenz handeln im Grunde nicht wenige der west-östlichen Missverständnisse.
Für den Westen war der Osten der Traum von der Flucht aus der Postmoderne, der man langsam überdrüssig geworden war (auch wenn kurzfristig aus dem Traum ein Albtraum wurde, weil in den historischen Regionen plötzlich alter ethnischer Wahnsinn wucherte). Für den Osten war der Westen der Traum von Konsum und Wohlstand. Für den Westen war der Osten der Kontrast zu glatter Düsseldorfigkeit. Nicht wenige im Osten hätten Düsseldorf dagegen für ein Synonym für das Paradies gehalten.
Für den Westen war der Osten ein großes Freilichtmuseum mit Einwohnern, die man für glückliche, frei laufende, vom Kommerz, Werbung und Konsum noch nicht so entfremdete Menschen hielt, ähnlich den Hühnern auf dem Biobauernhof. Im Grunde hätte man sich gewünscht, dieser History-Park würde weiterbestehen. Aber dessen Einwohner wollten aus irgendwelchen unverständlichen Gründen werden wie wir. „Zwischeneuropa“ spannte die Muskeln an und tat, was zu tun war, den Blick scharf nach Westen gewandt – auf Amerika, die Nato, vor allem aber auf die Europäische Union.
Die westlichen Öffentlichkeiten dagegen schaffen es bis heute nicht, die historische Dimension der Osterweiterung richtig zu würdigen. Was, wenn dies daran liegt, dass wir dieses Westwärtsstreben der Osteuropäer für einen Verrat an einem Traum halten – an unserem Traum, von dem wir irrtümlich annahmen, es sei auch ihr Traum? Haben wir am Osten nicht so geschätzt, dass er eben nicht so langweilig und normal war wie unser posthistorisches Westeuropa? Für den Osten dagegen war die westliche Normalität eine Utopie.
So erleben wir, am Vorabend des Beitritts der zehn neuen EU- Mitgliedstaaten, eine wahrhaftig paradoxe Situation: Im Westen herrscht das Gefühl vor, es geschehe damit nichts Bedeutendes, jedenfalls nichts Großartiges – allenfalls ein ökonomisch riskantes Abenteuer. Im Osten wiederum spüren die Leute natürlich, dass diese supranationale Entität, der man demnächst zugehört, den Beitritt allenfalls als technisches Ereignis betrachtet. Pathos will hier wie dort nicht aufkommen.
Dabei markiert dieser 1. Mai 2004 einen triumphalen Höhepunkt einer fast unglaublichen Success-Story: Alle zehn neuen EU-Mitgliedstaaten haben in weniger als 15 Jahren ausreichend stabile demokratische Institutionen aufgebaut, ihr administratives Regelwerk dem der Europäischen Union angeglichen und ein politisches Personal herausgebildet, das mit dem in den modernen westlichen Demokratien mitzuhalten vermag (auch wenn es da und dort noch irritierende Korruptionsanfälligkeit und auch noch überdurchschnittliche Instabilität geben mag). All dies wäre ohne den Magnetismus der Europäischen Union nicht möglich gewesen.
Das supranationale Europa, das ewig an sich selbst zweifelt, sich der Supermacht Amerika chronisch unterlegen fühlt – es bemerkt gar nicht, welche kulturelle Anziehung und inklusive Kraft von ihm ausgeht. Es ist unfähig, den Pathos dieses Augenblicks ausreichend zu würdigen – teilweise gewiss auch deshalb, weil sein Erfolgsgeheimnis gerade in der Bändigung des Pathetischen besteht, der Verwandlung und Institutionalisierung historischer Geschehnisse in administrative Prozesse. Europa führt, zwecks Erweiterung seiner hegemonialen Zone, keine Kriege – Europa führt Beitrittsverhandlungen. Aber natürlich ist diese Europäische Union auch eine Art von Empire – jedenfalls wenn man darunter den Raum einer bestimmten Ordnung versteht, die Stabilität und damit gute Bedingungen für Prosperität garantiert und Unordnung und Instabilität nur jenseits seiner Grenzen zulässt. An der Peripherie des Empire muss Ruhe sein.
Es ist eine Peripherie, die immer größere Räume umfasst. Bis an die Grenzen Russlands und der Ukraine im Osten, bis ins obere Drittel des Balkans reicht es schon; demnächst werden wohl Kroatien und Bosnien-Herzegowina dieser Zone angehören, bald womöglich die Türkei. Ein Europa, das das vermag, braucht sich vor Amerika gewiss nicht zu verstecken. Und es kann, für einen kleinen Augenblick vielleicht, aus seiner geschäftigen Routine erwachen und realisieren, dass am 1. Mai 2004 etwas wahrhaftig Großes geschieht.